Schwerbehinderung: So kannst Du den Grad der Behinderung erhöhen

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Wer seinen Grad der Behinderung (GdB) erhöhen lassen möchte, steht nicht nur vor Formalitäten, sondern vor einem rechtlich und medizinisch geprägten Verfahren. Maßgeblich ist dabei nicht die Diagnose an sich, sondern wie stark die gesundheitlichen Einschränkungen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben aktuell beeinträchtigen.

Der GdB wird in Zehnerschritten von 10 bis 100 festgestellt und richtet sich nach bundeseinheitlichen „Versorgungsmedizinischen Grundsätzen“, die der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) als Anlage beigefügt sind. Ab einem GdB von 50 gilt man als schwerbehindert.

Rechtsgrundlagen und Zuständigkeit

Rechtsanker des Verfahrens ist § 152 SGB IX. Zuständig sind die in den Ländern dafür benannten Behörden (häufig Versorgungsämter bzw. Landesämter für Soziales). Auf Antrag wird das Vorliegen einer Behinderung und der GdB festgestellt; zugleich können die sogenannten „gesundheitlichen Merkmale“ (Merkzeichen) für Nachteilsausgleiche geprüft werden. Die Feststellung orientiert sich an der VersMedV.

Wann ein Erhöhungsantrag sinnvoll ist

Ein Antrag auf Neufeststellung – landläufig als Verschlimmerungs- oder Änderungsantrag bezeichnet – ist angezeigt, wenn sich die gesundheitliche Situation wesentlich verschlechtert hat oder neue, zusätzliche Gesundheitsstörungen hinzugekommen sind, deren Auswirkungen voraussichtlich länger als sechs Monate anhalten.

Rechtlich zählen ausschließlich die funktionellen Einschränkungen zum Zeitpunkt der Antragstellung; vergangene Leiden wirken nur, sofern sie aktuell zu Beeinträchtigungen führen.

Gute Vorbereitung: Unterlagen, die überzeugen

Die Behörde ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen, ist dabei aber auf Mitwirkung angewiesen. Wer Leistungen beantragt, muss alle erheblichen Tatsachen angeben und auf Verlangen der Behörde die Einholung ärztlicher Auskünfte ermöglichen.

“In der Praxis beschleunigen aktuelle, aussagekräftige Befunde, Facharztberichte, Reha-Entlassungsberichte, OP-Berichte und Verlaufsdokumentationen die Bewertung”, berichtet der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt.

Sinnvoll sei es zudem, “die alltagsrelevanten Teilhabeeinschränkungen konkret zu schildern (z. B. Wege-, Belastungs-, Konzentrations-, Greif-, Sitz- und Stehfähigkeiten), weil genau diese Auswirkungen bewertet werden – nicht allein die Diagnose”, so Anhalt.

Diese Umstände sprechen für eine Erhöhung des Grades der Behinderung

Voraussetzung Worum es konkret geht
Wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustands Seit dem letzten Bescheid haben Intensität, Häufigkeit oder Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen spürbar zugenommen und beeinträchtigen die Teilhabe stärker.
Hinzutreten neuer Gesundheitsstörungen Zusätzliche, eigenständige Erkrankungen oder Unfallfolgen führen zu weiteren funktionellen Einschränkungen in anderen Lebensbereichen.
Dauerhaftigkeit der Beeinträchtigung Die gesundheitlichen Auswirkungen sind voraussichtlich länger als sechs Monate gegeben; vorübergehende Beschwerden genügen nicht.
Messbare Funktionsverluste Objektiv fassbare Verschlechterungen, etwa reduzierte Belastbarkeit, eingeschränkte Mobilität, geringere Greif-, Seh-, Hör- oder kognitive Leistungen.
Teilhaberelevanz im Alltag und Beruf Nachweisbare zusätzliche Einschränkungen bei Wegstrecken, Selbstversorgung, Kommunikation, Konzentration, Arbeitsfähigkeit oder sozialer Interaktion.
Therapie- und Medikamentennebenwirkungen Anhaltende Nebenwirkungen (z. B. Fatigue, Neuropathien, kognitive Defizite) verursachen selbst relevante Funktionsbeeinträchtigungen.
Chronisches Fortschreiten oder Stadiumswechsel Bei chronischen Leiden liegt ein dokumentierter Verlauf mit Verschlechterung oder eine Einstufung in ein höheres Krankheitsstadium vor.
Wechselwirkungen mehrerer Leiden (Gesamt-GdB) Mehrere Beeinträchtigungen verstärken sich in ihrer Auswirkung; der Gesamt-GdB steigt, obwohl Einzelgrade nicht addiert werden.
Persistierende Beeinträchtigungen nach Heilungsbewährung Nach Ablauf einer Heilungsbewährung bleiben erhebliche Einschränkungen bestehen, die eine höhere dauerhafte Bewertung rechtfertigen.
Versagen oder notwendige Intensivierung von Hilfen Trotz Hilfsmitteln, Reha oder Anpassungen bleibt eine deutlich geminderte Funktionsfähigkeit; wiederholte Eingriffe oder Therapien waren erforderlich.
Erhebliche Sinnesverschlechterung Deutlich geminderte Seh- oder Hörleistung mit praktischen Auswirkungen, etwa Orientierungsproblemen, Kommunikationshindernissen oder Sturzrisiken.
Psychische oder neurokognitive Verschlechterung Zunehmende Angst-, Depressions-, Belastungs- oder Aufmerksamkeitsstörungen mit spürbaren Folgen für Tagesstruktur, Teilhabe und Belastbarkeit.
Neue, bisher unberücksichtigte Befunde Aktuelle fachärztliche Berichte, OP- und Reha-Entlassungsberichte oder Verlaufsdokumentationen belegen eine geänderte Sachlage.
Erfüllung zusätzlicher gesundheitlicher Merkmale (Merkzeichen) Kriterien für Merkzeichen wie G, aG, H, Bl oder Gl sind nun erfüllt; dies weist auf eine gravierendere Teilhabeeinschränkung hin und kann die Gesamtbewertung beeinflussen.
Wesentliche Änderung der Verhältnisse im Rechtssinn Seit dem bestandskräftigen Bescheid hat sich die Sachlage so verändert, dass eine Neufeststellung sachlich geboten ist.

Antragstellung in der Praxis

Der Antrag kann je nach Bundesland online, per Formular oder schriftlich gestellt werden. Er ist bei der zuständigen Landesbehörde einzureichen; vielerorts wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dieselben Formulare auch für Verschlimmerungsfälle genutzt werden.

Wichtig ist das Aktenzeichen des letzten Bescheids anzugeben. Der GdB wirkt grundsätzlich ab Antragseingang; auf besonderen Antrag kann auch ein früherer Zeitpunkt festgestellt werden, wenn hierfür ein besonderes Interesse glaubhaft gemacht wird.

So wird der Gesamt-GdB gebildet

Die Bildung des Gesamt-GdB folgt festen Grundsätzen: Einzelgrade werden nicht addiert. Ausgangspunkt ist in der Regel der höchste Einzel-GdB; weitere Funktionsbeeinträchtigungen erhöhen den Gesamt-GdB, wenn und soweit sie die Teilhabebeeinträchtigung insgesamt verstärken oder in andere Lebensbereiche hineinwirken.

Ausschlaggebend sind stets die konkreten Auswirkungen im Einzelfall. Diese Methodik ist Teil A der VersMedV und wird in behördlichen Leitfäden wiederholt hervorgehoben.

Heilungsbewährung und befristete Bewertungen

Bei einigen Erkrankungen, insbesondere nach Tumorbehandlungen, wird eine sogenannte Heilungsbewährung berücksichtigt. Während dieser Zeit – häufig fünf Jahre, teils kürzer – kann vorübergehend ein höherer GdB festgesetzt werden, der nach Ablauf überprüft und nicht selten abgesenkt wird, sofern keine anhaltenden Beeinträchtigungen verbleiben.

Dies erklärt, warum es zu zeitlich befristeten oder später reduzierten Feststellungen kommen kann.

Merkzeichen gezielt mitbeantragen

Neben dem GdB sind für Nachteilsausgleiche oft die Merkzeichen entscheidend, etwa für Mobilität, Seh-/Hör- oder Orientierungsbeeinträchtigungen.

Diese „gesundheitlichen Merkmale“ können zugleich mit dem Erhöhungsantrag oder bei späterem Eintritt gesondert festgestellt werden. Sie werden – wie der GdB – nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen beurteilt.

Transparenz schaffen: Akteneinsicht und Begründung

Wer verstehen möchte, wie die Behörde gewertet hat, kann Einsicht in die Verfahrensakte verlangen, einschließlich der sozialmedizinischen Stellungnahmen.

Entwürfe sind bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens ausgenommen; danach besteht ein umfassender Anspruch, soweit dies zur Wahrnehmung eigener Rechte erforderlich ist. Die Akteneinsicht hilft, Widersprüche fundiert zu begründen.

Risiken im Blick behalten

Jede Neufeststellung eröffnet die umfassende Überprüfung des gesamten Gesundheitszustands. In der Praxis kann das – etwa nach erfolgreicher Therapie oder mit Ablauf der Heilungsbewährung – zu einer Herabstufung des GdB oder zum Wegfall von Merkzeichen führen. Daher kann “jeder Antrag auf Neubewertung (sog. Verschlimmerungsantrag) auch zur Reduzierung oder gar Aberkennung des Behinderungsgrades führen”, mahnt der Sozialrechtsexperte.

Rechtsgrundlage für nachträgliche Änderungen bestandskräftiger Bescheide ist § 48 SGB X bei wesentlicher Änderung der Verhältnisse.

Der Bescheid: Wirkung, Rückwirkung, Fristen

Der erhöhte GdB gilt in der Regel ab dem Tag der Antragstellung; auf Antrag ist eine frühere Feststellung möglich, wenn hierfür ein besonderes Interesse glaubhaft gemacht wird. Gegen ablehnende oder zu niedrige Bescheide kann binnen eines Monats Widerspruch eingelegt werden.

Wird der Widerspruch zurückgewiesen, läuft für die Klage beim Sozialgericht ebenfalls eine Monatsfrist. Reagiert die Behörde über längere Zeit gar nicht, ist nach sechs Monaten (im Antragsverfahren) beziehungsweise nach drei Monaten (im Widerspruchsverfahren) die sogenannte Untätigkeitsklage möglich.

Praktische Hinweise für eine solide Begründung

Wer seinen Erhöhungsantrag erfolgversprechend vorbereiten will, sollte den Verlauf seit dem letzten Bescheid strukturiert darlegen: Welche Beschwerden haben zugenommen, welche neuen Diagnosen bestehen, welche Therapien fanden statt, welche Nebenwirkungen treten auf, und welche Tätigkeiten des Alltags, Berufs oder der Mobilität sind konkret erschwert.

Hilfreich ist, die eigene Schilderung mit aktuellen Befunden zu unterlegen und die Behörde ausdrücklich zu ermächtigen, Unterlagen bei behandelnden Stellen anzufordern. Das beschleunigt das Verfahren und erfüllt die Mitwirkungspflichten nach dem Sozialgesetzbuch.

Wenn es zum Streit kommt

Widerspruch und Klage sollten medizinisch untermauert sein. Häufig lohnt es sich, vor dem Gang zum Gericht Akteneinsicht zu nehmen, um die tragenden Erwägungen des ärztlichen Dienstes nachzuvollziehen und gezielt zu entkräften. Beratungsstellen, Behindertenverbände und Fachanwältinnen und Fachanwälte für Sozialrecht kennen die Versorgungsmedizinischen Grundsätze und die einschlägige Rechtsprechung zur Bildung des Gesamt-GdB und können bei der Argumentation unterstützen.

Fazit

Der Weg zu einem höheren GdB ist kein Mysterium, aber er verlangt Präzision. Entscheidend ist, die tatsächlichen Auswirkungen auf die Teilhabe aktuell und nachvollziehbar zu dokumentieren, die Versorgungsmedizinischen Grundsätze im Blick zu haben und die eigenen Rechte – von der Mitwirkung über die Akteneinsicht bis zu Widerspruch, Klage und Untätigkeitsklage – konsequent zu nutzen.

Wer die Chancen sorgfältig abwägt und die Risiken einer Neufeststellung kennt, verbessert die Aussichten auf eine sachgerechte Entscheidung.