Hartz IV: Sich gegen Zwangsverrentung wehren

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Zwangsverrentung: Trends in der Rechtsprechung von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen

20.09.2013

Hartz-IV-Bezieher sind verpflichtet, ab dem 63. Geburtstag eine vorgezogene Rente mit Abschlägen in Anspruch zu nehmen (§ 12a SGB II). Die Jobcenter können dazu auffordern, einen entsprechenden Rentenantrag zu stellen. Kommt ein Leistungsberechtigter der Aufforderung nicht nach, kann das Jobcenter den Rentenantrag selbst stellen (§ 5 SGB II). Diese Zwangsverrentung bringt erhebliche Nachteile, vor allem aufgrund der Rentenabschläge, die ein Leben lang wirken. Die Abschläge bei einer vorgezogenen Altersrente steigen mit der „Rente mit 67“ auf bis zu 14,4 Prozent.

Seit Jahresbeginn häufen sich die Fälle, in denen die Jobcenter Verfahren zur Zwangsverrentung betreiben. Ein Grund für den Anstieg ist das faktische Auslaufen einer Sonderregelung. Danach durften Personen nicht zwangsverrentet werden, die die alte „58er-Regelung“ in Anspruch nahmen oder in Anspruch hätten nehmen können und die zum Stichtag 31.12.2007 bereits 58 Jahre oder älter waren. Wer ab dem Jahr 2013 nun 63 Jahre alt wird, ist aber jünger und erfüllt diese Bedingung nicht mehr.

Nachfolgend informieren wir über wichtige Trends in der Rechtsprechung, an die – zusätzlich zur Unbilligkeitsverordnung – angeknüpft werden kann:

Keine Einstellung des ALG II
Die Pflicht, vorrangige Sozialleistungen (einschließlich einer Rente mit Abschlägen) in Anspruch nehmen zu müssen (§ 12a SGB II), ist nicht sanktionsbewehrt. Das heißt, ein Verstoß gegen die Pflicht bleibt insofern folgenlos, da die Jobcenter das ALG II nicht kürzen, oder einstellen dürfen. Dafür fehlt es an einer Rechtsgrundlage.

Vielmehr regelt der § 5 Abs. 3 die Rechtsfolge, wenn der Aufforderung, eine vorrangige Sozialleistung zu beantragen, nicht nachgekommen wird: Das Jobcenter kann den Antrag selbst stellen – nicht weniger aber auch nicht mehr.

Für die Versagung von Leistungen, die das Existenzminimum sicherstellen sollen, bedarf es einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung (u.a. BSG vom 22.09.2011 – B 4 AS 202/10 R). Nachfolgend setzen wir uns mit den gesetzlichen Regelungen auseinander, die eventuell eine Versagung von Leistungen begründen könnten und die in der Praxis teils von den Jobcentern, die Leistungen einstellen, auch angeführt werden.

Selbsthilfe?
Leistungsberechtigte müssen alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfsbedürftigkeit nutzen (§ 2 Abs. 1 SGB II) und Leistungen dürfen noch erbracht werden, soweit die Hilfebedürftigkeit nicht anderweitig beseitigt werden kann (§ 3 Abs. 3 SGB II). Diese Grundsatznormen werden jedoch durch die weiteren Regelungen des SGB II (etwa zur Berücksichtigung von Einkommen oder Vermögen sowie zu Sanktionen) abschließend konkretisiert. Die genannten §§ 2 und 3 alleine bieten keine Handhabe, Leistungen zu versagen. BSG vom 22 September 2011 – B 4 AS 202/10 R.

So auch – konkret bezogen auf die Pflicht zur Inanspruchnahme von Sozialleistungen – LSG BaWü, Beschluss vom 5.10.2012 – L 9 AS 3208/12 ER B

Fehlende Hilfebedürftigkeit?
Bekanntlich ist für die Beurteilung der Hilfebedürftigkeit (§ 9 Abs. 1 SGB II) nach der gefestigten Rechtsprechung des BSG ausschließlich der tatsächliche Zufluss „bereiter Mittel“ relevant. Fiktive Einkommen dürfen nicht berücksichtigt werden. BSG vom 21.06.2011 – B 4 AS 21 / 10 R So auch – konkret bezogen auf die Zwangsverrentung –
LSG NRW, Beschluss vom 11.04.2012 – L 19 AS 544 B ER Die Tatsache, dass eine Rente mit Abschlägen bezogen werden könnte, führt somit nicht zum Wegfall der Hilfebedürftigkeit.

Skandalös ist, dass in den fachlichen Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit (BA) immer noch das Gegenteil steht. Aber bei einer Leistungseinstellung wegen fehlender Bedürftigkeit ist ein Erfolg vorm Sozialgericht nahezu garantiert. Uns ist keine einzige Gerichtsentscheidung bekannt, die die Rechtsauffassung der BA an dieser Stelle stützen würde.

Fehlende Mitwirkung?
Nach der Rechtsauffassung der BA dürfen Leistungen im Rahmen des Verfahrens zur Zwangsverrentung generell nicht mit Verweis auf fehlende Mitwirkung eingestellt werden. In den fachlichen Hinweisen zu § 5 heißt es: „Fehlende Mitwirkung gegenüber dem vorrangigen Träger wirkt nicht gegenüber der Grundsicherungsstelle; eine Versagung von Leistungen nach dem SGB II nach § 66 SGB I [= Einstellung der Leistungen bei fehlender Mitwirkung, Anm. KOS] ist daher nicht möglich.“ ( BA-Hinweise 5.11). Mit anderen Worten: Die Mitwirkungspflichten gelten nur „innerhalb eines Leistungssystems“: Wer bei der Aufklärung des Rentenanspruchs nicht mitwirkt, bekommt ggf. keine Rente. Rechtsfolgen in einem anderen Leistungssystem sind nicht zulässig. Die fehlende Mitwirkung gegenüber der Rentenversicherung hat also – laut BA – keine Auswirkungen auf Leistungen nach dem SGB II.

Leistungsausschluss Altersrentner?
Eine Einstellung der Leistungen nach § 7 Abs. 4 SGB II kommt ebenfalls nicht in Betracht. Nach dem eindeutigen Wortlaut ist von SGB-II-Leistungen ausgeschlossen, wer eine Altersrente bezieht – und nicht, wer eine Rente beziehen kann!

Vorsicht bei Eingliederungsvereinbarungen
Es droht eine Sanktionen nach §§ 31ff, wenn in der Eingliederungsvereinbarung der Antrag auf eine vorzeitige Rente vereinbart wurde und der Leistungsberechtigte den Antrag nicht stellt, obwohl dazu noch einmal gesondert aufgefordert wurde. Solche Eingliederungsvereinbarungen sollten niemals unterschrieben werden. Bei der gerichtlichen Überprüfung der Sanktion ist dann zusätzlich zu prüfen, ob die Aufforderung zum Rentenantrag rechtmäßig ist.

Verwaltungsakt
Die Aufforderung zur Rentenantragstellung ist ein Verwaltungsakt.

LSG NRW vom 1.2.2010 – L 19 B 371/09 AS ER
HessLSG vom 24.5.2011 – L 7 AS 88/11 B ER

Die Aufforderung kann folglich mit einem Widerspruch angefochten werden. Der Widerspruch hat nach § 39 Nr.3 keine aufschiebende Wirkung. Diese muss (und sollte unbedingt!) beim Sozialgericht beantragt werden. Ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist ein zentrales Mittel, um die Zwangsverrentung zumindest hinauszuzögern.

Die Rentenaufforderung verliert nicht dadurch seine Wirkung dadurch, dass das Jobcenter im weiteren Verfahren einen Rentenantrag stellt. Widerspruch und Klage gegen die Aufforderung bleiben möglich. SG Hannover vom 15.1.2013 S 68 AS 1296/12

Ermessensausübung
Die Jobcenter müssen Ermessen ausüben, also abwägen und den Einzelfall berücksichtigen. Diese Ermessenausübung betrifft sowohl die Frage, ob ein Leistungsberechtigter aufgefordert werden soll, eine Rente zu beantragen, als auch die Frage, ob das Jobcenter (bei Nicht-Befolgen) den Antrag selbst stellt.
Aufforderungen zum Rentenantrag nach „Schema F“ sind somit rechtswidrig.

HessLSG vom 24.5.2011 – L 7 AS 88/11 B ER
LSG NRW vom 12.6.2012 – L 7 AS 916/12 B ER
LSG NRW vom 1.2.2010 – L 19 B 371/09 AS ER
Sabine Knickrehm, Richterin am BSG in: Eichker/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. § 5 Rn.32
Christian Armborst in: LPK-SGB II, § 5 Rn. 49

Gegenteilige Auffassungen sind uns nicht bekannt.

Die Pflicht zur Ermessensausübung bezogen auf den vom Jobcenter gestellten Rentenantrag ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut des Gesetzes („… können die Leistungsträger (…) den Antrag stellen …“, § 5 Abs. 3 SGB II).

Die Pflicht zur Ermessensausübung bereits bei der Aufforderung an den Leistungsberechtigten, einen Rentenantrag zu stellen, ergibt sich indirekt aus folgender Überlegung: Die Ermessensausübung muss vorgezogen werden, da ansonsten diejenigen, die der Aufforderung nachkommen, schlechter gestellt werden als diejenigen, die die Aufforderung ignorieren.

Eine Rentenantragstellung durch das Jobcenter ist rechtswidrig, wenn bereits bei der vorhergehenden Aufforderung an den Leistungsberechtigten keine rechtmäßige Ermessensausübung erfolgt ist. SG Hannover vom 15.1.2013 S 68 AS 1296/12

Unbilligkeitsverordnung abschließend?
In der Literatur und der Rechtsprechung ist ein Trend für die Auffassung erkennbar, dass die in der Unbilligkeitsverordnung konkret genannten Ausnahmen (§ 2-5) keine abschließende Aufzählung darstellen, sondern die Jobcenter aufgrund der Generalklausel im § 1 auch weitere Aspekte prüfen müssen.
SG Duisburg Beschluss vom 28.1.2013 – AS 4787/12 ER
SG Hannover vom 15.1.2013 S 68 AS 1296/12

Folgt man dieser Auffassung, dann sind Aufforderungen zum Rentenantrag bereits dann rechtswidrig, wenn das Jobcenter die Auflistung in der Unbilligkeitsverordnung für abschließend hält und nichts anderes prüft („Ermessensunterschreitung“).

Anderer Auffassung ist das SG Detmold (Beschluss vom 01.06.2012, S 19 AS 479/12 ER). Es hält die Auflistung in der Unbilligkeitsverordnung für abschließend. Der 7. und der 19. Senat des LSG NRW haben die Frage, ob die Auflistung der Unbilligkeitsverordnung abschließend ist, in mehreren Entscheidungen bisher offen gelassen.

LSG NRW vom 22.05.2013 – L 19 AS 291/13 B ER
LSG NRW vom 13.05.2012 – L 7 AS 525/13 B ER und L 7 AS 526/13 B)

In der Fachliteratur wird die These, dass die Auflistung der Unbilligkeitsverordnung nicht abschließend ist, u.a. vertreten von:

Geiger in: Münder, LPK-SGB II, 4. Auflage § 12 a Rn. 6
Hengelhaupt in: Hauck/Nofts SGB II § 13 Rn. 296;
Knickrehm in: Soziale Sicherheit 5/2008

Eine Zwangsverrentung kann auch unzulässig sein, wenn die erwartbare, reguläre Rente existenzsichernd ist und nur über die Abschläge der vorzeitigen Inanspruchnahme eine Bedarfsunterdeckung auftritt, die zu einem dauerhaften Bezug von Leistungen nach dem SGB XII (Sozialhilfe und Grundsicherung im Alter) führen würde.
Folgt man dieser Auffassung, dann sind Aufforderungen zum Rentenantrag schon dann rechtswidrig, wenn vorab die Frage einer existenzsichernden Rentenhöhe nicht geprüft wird.

SG Duisburg vom 28.1.2013 – AS 4787/12 ER

Dieser Beschluss des SG Duisburg wurde zwar vom LSG NRW wieder aufgehoben (Beschluss vom 22.05.2013 – L 19 AS 291/13 B ER). Dies spricht aber nicht gegen die Ansicht, ein dauerhafter Bezug von Leistungen nach dem SGB XII könnte eine Zwangsverrentung unbillig machen. Denn das LSG NRW gelangte zu der Feststellung, dass die erwartbare vorzeitige Rente im verhandelten Fall nicht zu Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII führen wird.
In einem anderen Fall hielt das LSG NRW die Aufforderung zum Rentenantrag für zulässig, da auch die reguläre, abschlagsfreie Rente so niedrig gewesen wäre, das Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII bestanden hätte. LSG NRW vom 13.05.2013 – L 7 AS 525/13 B ER und L 7 AS 526/13 B

Aussicht auf Erfolg haben somit die Fälle, in denen die abschlagsfreie Rente oberhalb des SGB-XII-Anspruchs liegt und durch die Abschläge Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII herbeigeführt wird.

Ein weiteres Argument dafür, dass eine Zwangsverrentung – über die Auflistung der Unbilligkeitsverordnung hinaus – unbillig sein kann, ist der Vermögenseinsatz: Im SGB XII gelten bekanntlich wesentlich strengere Grenzen für das Schonvermögen. Eine Zwangsverrentung kann daher unbillig sein, wenn die vorgezogene Rente nicht existenzsichernd ist und SGB-XII-Leistungen bezogen werden müssen und so Vermögen verloren geht, dass bei regulärem Renteneintrittsalter und einer dann bedarfsdeckenden Rente nicht eingesetzt werden müsste.

Rechtswidrig ist auch die Aufforderung, „umgehend“ eine Rente zu beantragen, wenn die Vollendung des 63. Lebensjahr noch in „ferner“ Zukunft liegt. Im dem verhandelten Fall erfolgte die Aufforderung ein halbes Jahr vor dem 63. Geburtstag. SG Hannover vom 15.1.2013 S 68 AS 1296/12

Der bloße Einkommensverlust infolge der vorgezogenen, geminderten Rente im Vergleich zur abschlagsfreien Rente ist hingegen nicht unbillig. Denn die Inanspruchnahme einer Rente mit Abschlägen ist im § 12a SGB II ja ausdrücklich genannt und vom Gesetzgeber so gewollt.

Wann muss Ermessen ausgeübt werden?
Zu dieser Frage ist die Rechtsprechung noch uneins. Überzeugend ist jedoch die Auffassung, die vom 7. Senat des Landessozialgerichts NRW vertreten wird: Das Ermessen muss vor dem Verwaltungsakt ausgeübt werden, mit dem zum Rentenantrag aufgefordert wird. Denn nur so ist sichergestellt, dass Leistungsbezieher, die der Aufforderung nachkommen, nicht schlechter gestellt werden als diejenigen, die die Aufforderung ignorieren.

SG Hannover vom 15.1.2013 S 68 AS 1296/12
LSG NRW vom 12.6.2012 – L 7 AS 916/12 B ER

Rechtsweg einschlagen und Zeit gewinnen
Wir empfehlen immer, sich mit den zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfen gegen Aufforderungen, eine Rente mit Abschlägen zu beantragen, zu wehren. Denn jeder Monat, um den die Verrentung hinausgezögert werden kann, ist bereits ein Erfolg, da sich die Höhe der Abschläge nach dem Renteneintrittsalter richtet. So konnte beispielsweise ein Antragsteller, der zwar vor Gericht letztlich unterlag, zumindest erreichen, dass der Rentenantrag um mindestens sechs Monate herausgezögert wurde. (Quelle: Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen, KOS)

Bild: Uwe Schlick / pixelio.de

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