Armutsforscher Christoph Butterwegge kritisiert Hartz IV als „Rutsche in die Armut“
23.02.2012
Prof. Dr. Christoph Butterwegge forscht seit vielen Jahren am Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität Köln mit dem Schwerpunktthema Armut. Sein Fazit nach zehn Jahren Hartz-IV-Kommission: „Mit den rot-grünen Reformen wurde eine Rutsche in die Armut errichtet.“ Der Armutsforscher wurde von der Neuen Ruhr/Neue Rhein Zeitung (NRZ) interviewt.
Hartz IV: Die größten Arbeits- und Sozialreformen in der Zeit der Bundesrepublik
Durch die größten deutschen Arbeits- und Sozialreformen, die vor zehn Jahren durch die Hartz-Kommission eingeleitet wurden, habe die soziale Schieflage in Deutschland deutlich zugenommen, so der Armutsforscher gegenüber der NRZ.
Unter der rot-grünen Regierung mit Gerhard Schröder als Bundeskanzler wurde die Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ eingesetzt. Den Vorsitz hatte damals VW-Vorstand Peter Hartz. Zwar habe sich die Zahl der Arbeitslosen deutlich verringert, jedoch könne nicht von einer Erfolgsgeschichte der Hartz-IV-Reformen gesprochen werden, erklärt Butterwegge. Der Armutsforscher sieht den Grund für den Rückgang der Arbeitslosigkeit vielmehr in der insgesamt verbesserten konjunkturellen Entwicklung. Darüber hinaus sei die Arbeitslosenstatistik geschönt worden. Weder Ein-Euro-Jobber, noch Über-58-Jährige ohne Vermittlungschance sowie Menschen, die die Hilfe private Arbeitsvermittler in Anspruch nehmen, würden seit den Hartz-Reformen darin enthalten sein. Butterwegge sieht das erklärte Ziel der Hartz-Kommission, Arbeitslose möglichst schnell zu vermitteln, als nicht erreicht an, denn die Dauer der Arbeitslosigkeit sei nicht gesunken.
Hartz-Kommission senkte Löhne, um international wettbewerbsfähig zu bleiben
Der Professor für Politik sieht besonders die Entwicklung im Niedriglohnsektor kritisch. Unternehmen, die Niedriglöhne zahlen, würden durch aufstockende Leistungen für Geringverdiener noch staatlich subventioniert werden. Arbeit sowie die Verwaltung der Arbeitslosigkeit seien billiger geworden. Butterwegge sieht im Senken der Löhne, um international wettbewerbsfähig zu bleiben, die Hauptintention der Hartz-Kommission. Da dies erreicht wurde, hätten südeuropäische Länder ihren wichtigsten „Standortvorteil“ verloren und wären so in die Schuldenkrise getrieben worden, erklärt er. Durch die Hartz-Reformen würden zudem zunehmend US-amerikanische Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt erzeugt werden.
„Quantitativ hat sich der Arbeitsmarkt verbessert, qualitativ hat er sich hingegen deutlich verschlechtert. Für den Sozialstaat und die auf ihn angewiesenen Menschen haben die Hartz-Gesetze verheerende Folgen gehabt. Mit den rot-grünen Reformen wurde eine Rutsche in die Armut errichtet. Mit der Arbeitslosenhilfe wurde erstmals seit 1945 eine für Millionen Menschen existenziell wichtige Transferleistung gestrichen und zugleich das Prinzip der Lebensstandardsicherung außer Kraft gesetzt“, erläutert Butterwegge. Für Familien sei insbesondere der Wegfall von einmaligen Leistungen und Beihilfen problematisch. Der Armutsforscher erklärt, dass vor den Hartz-Reformen rund eine Million Kinder auf Sozialhilfeniveau lebten. Bereits kurz nach Inkrafttreten der Reformen 2004/2005 waren fast doppelt so viele Kinder betroffen.
Repressionen und Schikanen nehmen überhand
Butterwegge hält das Versprechen des „Förderns und Forderns“ für nichts anderes als einen Werbeslogan der Regierung. Nach dem Einsetzten der Hartz-Kommision seien die Maßnahmen zur Weiterbildung für Arbeitslose stark reduziert. Grundsätzlich könne man Eigeninitiative und Selbstverantwortung von Betroffenen verlangen, jedoch seien Vermittlungsprobleme, wie Suchterkrankungen oder die Entwöhnung vom Arbeitsmarkt, nicht durch Druck der Behörden zu lösen. Dennoch hätten Schikanen und Repressionen deutlich zugenommen. „Das sozialpolitische Klima in Deutschland hat sich deutlich verschlechtert, die soziale Schieflage zugenommen. Die Stimmung im Land ist gedrückter geworden, die Angst vor dem sozialen Abstieg hat auch bürgerliche Schichten erreicht. Das bedroht am Ende die Demokratie“, warnt Butterwgge abschließend. (ag)
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