Die Soziologin Dr. Bettina Grimmer kam in ihrer Doktorarbeit zu dem Ergebnis, dass Jobcenter Leistungsberechtigte zur Folgsamkeit ausrichten. Aus der Dissertation entstand ihr Buch “Folgsamkeit herstellen – Eine Ethnographie der Arbeitsvermittlung im Jobcenter”, das jetzt im transcript Verlag erschienen ist.
Das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung L.I.S.A interviewte die Autorin darüber, wie Jobcenter der Disziplinierung dienen.
Inhaltsverzeichnis
Strukturelle Gründe für Folgsamkeit
Der Grund dafür, dass Jobcenter Leistungsberechtigte vor allem zum “Ja-Sagen” drängen, ist, laut Grimmer, strukturell. Im Arbeitsvermittlungsgespräch würden Daten erfasst und aktualisiert, und Informationen von den Leistungsberechtigten angefordert. Die Eigenbemühungen würden kontrolliert.
Danach würde die Arbeitsvermittlung Stellenangebote ausdrucken und zur Bewerbung auffordern, und zum Schluss würde die Eingliederungsvereinbarung (heutiger Kooperationsplan) abgeschlossen.
Faktisch verpflichteten sich die Leistungsberechtigten damit, jeden Monat eine Anzahl Bewerbungen nachzuweisen, um nicht sanktioniert zu werden.
“Ja-Sager vereinfachen die Arbeit für das Jobcenter”
Jeder einzelne dieser Schritte ginge vom Jobcenter aus, und die Leistungsberechtigten könnten lediglich “Ja” oder “Nein” sagen. Die Mitarbeiter wollten, dass die Betroffenen immer ja sagen, denn dann wäre für das Jobcenter die Arbeit schnell und einfach.
Unterschwellig, so Grimmer, stünde immer der Verdacht im Raum, dass Leistungsberechtigte nicht arbeiten wollen. Die Betroffenen müssten gegen diesen Verdacht ankämpfen, und dies gelänge durch das Darstellen von Folgsamkeit.
“Jobcenter misstrauen Leistungsberechtigten”
Jobcenter würden, mehr als andere Behörden, ihre Kunden auf maximaler Distanz halten. Mitarbeiter vermieden körperlichen Kontakt zu Leistungsberechtigten, würden sich nie auf dem Flur unterhalten und die Türen immer geschlossen halten.
Die Leistungsberechtigten wüssten so von Anfang an, dass das Jobcenter ihnen misstraue.
“Vermittlungshemmnisse statt hohe soziale Unterstützung”
Statt hoher sozialer Unterstützung und subventionierter Beschäftigung würde das Problem individualisiert. Im Jobcenter ginge es darum, “Vermittlungshemmnisse” zu bearbeiten “und die Klienten beschäftigungsfähig („employable“) zu machen.”
“Folgsamkeit als Ressource”
Sie schließt: “Die Folgsamkeit der Klienten wird im Gespräch von beiden Teilnehmern als Ressource genutzt. Durch die Arbeitsvermittler sogar in doppelter Hinsicht: einerseits ist sie Garant für die reibungslose Erledigung ihrer Arbeit, andererseits ein wichtiger Indikator zur Einschätzung der Arbeitswilligkeit der Klienten.
Letztere scheinen dies intuitiv zu wissen und stellen ihre Kooperationswilligkeit entsprechend unter Beweis.”
“Jobcenter sind symbolische Gewalt”
Die Situation der Leistungsberechtigten würde sich verbessern, je mehr Wissen sie über sich preisgäben und je kritikloser sie den Forderungen des Jobcenters folgten. Die Leistungsberechtigten würden sich also der symbolischen Ordnung des Jobcenters unterwerfen (müssen).
Es handle sich um symbolische Gewalt.
“Gut ist, wer die Ideologie des Jobcenters nachbetet”
Grimmer selbst benutzt den Begriff nicht, doch was sie beschreibt, das ist “Gehirnwäsche”. Der “gute Leistungsberechtigte” ist demnach dejenige, der das Mantra der Jobcenter nachbetet (“jede Arbeit ist besser als keine Arbeit”, “Grund für meine Hilfebedürftigkeit sind individuelle Vermittlungshemmnisse” etcetera).
Auf der schwarzen Listen stehen all die, die eigenständig denken, gesellschaftliche Verhältnisse reflektieren und sich ihres kritischen Verstandes bedienen.
“Widerspruch wird als Unwilligkeit gedeutet”
Dr. Grimmers Fazit im Interview mit L.I.S.A lautet: “Sich gegen diese Ordnung aufzulehnen ist nicht einfach, denn ein Widerspruch wird meist als Unwilligkeit gedeutet und ist nicht nur ein Angriff auf die Ordnung des Jobcenters, sondern auch auf den Arbeitsvermittler, der mit seiner symbolischen Autorität diese Ordnung repräsentiert. Diese Konstellation macht die Gespräche letztendlich so konfliktträchtig.”
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Dr. Utz Anhalt ist Buchautor, Publizist, Sozialrechtsexperte und Historiker. 2000 schloss er ein Magister Artium (M.A.) in Geschichte und Politik an der Universität Hannover ab. Seine Schwerpunkte liegen im Sozialrecht und Sozialpolitik. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dokumentationen für ZDF , History Channel, Pro7, NTV, MTV, Sat1.