Anmerkung: Deutschland darf Hartz IV verweigern

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Ein paar unreflektierte Anmerkungen zum Schlussantrag zur Rechtssache "Dano"vor dem EuGH

22.05.2014

Zahlreiche Medien berichten gestern: „Deutschland darf arbeitslosen EU-Bürgern Hartz IV verweigern“, oder ähnlich. Dies stimmt so natürlich nicht. Die Frage, ob der Ausschluss von Leistungen des SGB II mit europäischem Recht vereinbar ist oder nicht, ist weiterhin ungeklärt. Der Europäische Gerichtshof wird erst in einigen Monaten ein Urteil in dieser Frage (Rechtssache „Dano“, C-333/13) fällen.

Vorgestern (20. Mai 2014) ist lediglich der Schlussantrag des EuGH-Generalanwalts Melchior Wathelet vorgelegt worden, der darin zu dem oben knapp zusammengefassten Schluss kommt. Für die Richter_innen des EuGH ist dieser nicht bindend – gleichwohl sie in der Mehrzahl der Verfahren dem Generalanwalt folgen. Ob dies in diesem Fall auch so sein wird, bleibt abzuwarten. Wenn der EuGH jedoch seine bisherige Rechtsprechung zu vergleichbaren Konstellationen nicht völlig revidieren will, dürfte er die Argumentation des Generalanwalts diesmal nicht teilen.

Denn Generalanwalt Wathelet vollzieht in seinem 30-seitigen Plädoyer eine fulminante Kür gymnastischer Kunststücke: Er springt Salti, schlägt Haken, dreht Pirouetten, läuft im Kreis – und alles nur, um am Ende genügend Schwung für eine relativ simple Rolle rückwärts gesammelt zu haben.

Diese Rolle rückwärts ist das zentrale Ergebnis des Schlussantrags: Der Generalanwalt versucht, die vom EuGH zuletzt in der Rechtssache „Brey“ (C-140/12) aufgestellten, ziemlich ausdifferenzierten Grundsätze wieder einzustampfen. Im Kern geht es nämlich in beiden genannten Verfahren um die entscheidende Frage, ob nicht erwerbstätige Unionsbürger_innen pauschal von Sozialhilfeleistungen eines Mitgliedsstaats ausgeschlossen werden dürfen, oder ob es sich dabei um eine unzulässige Diskriminierung handelt.

Der EuGH hatte im Falle des deutschen Ehepaares Brey, die als Renter_innen in Österreich eine ergänzende Sozialhilfeleistung beantragt hatten, im September letzten Jahres geurteilt, ein Leistungsausschluss dürfe keinesfalls automatisch, sondern nur nach einer Einzelfallprüfung erfolgen, in der stets auch die Verhältnismäßigkeit eines solchen Ausschlusses geprüft werden müsse.
Im aktuellen Fall der Frau Dano aus Leipzig ist die Ausgangslage ganz ähnlich. Generalanwalt Wathelet (er war nicht zuständig im Fall "Brey") kommt allerdings nun zu dem Schluss, dass ein automatischer Leistungsausschluss hier sehr wohl mit Unionsrecht vereinbar sei. Der Grund: Der automatische Leistungsausschluss im deutschen Sozialrecht sei quasi nur halbautomatisch – anders als es der vollautomatische Ausschluss in Österreich gewesen sei.

Frau Dano sei nämlich „einzig und allein mit dem Ziel nach Deutschland (ge-)kommen, Nutzen aus dem Sozialhilfesystem dieses Mitgliedsstaats zu ziehen“. Außerdem sei wahrscheinlich, dass „die Inanspruchnahme des Sozialhilfesystems nicht vorübergehend ist, sondern sich auf unbestimmte Zeit verlängert, weil überhaupt nicht nach Arbeit gesucht wird.“ Und schließlich: Es sei ja vom Jobcenter Leipzig bereits eine begrenzte Einzelfallprüfung durchgeführt worden, weil schließlich entschieden werden musste, ob Frau Dano dem Grunde nach unter den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II oder unter den Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 SGB XII falle.

Aufgrund dieser Argumentation stellen sich mir drei Fragen:
1. Kann es sein, dass der Generalanwalt zu einem von der bisherigen EuGH-Rechtsprechung derart abweichenden Schluss kommt, weil es sich bei Frau Dano um eine alleinerziehende, junge Mutter handelt, die rumänische Staatsbürgerin und Analphabetin ist, während die Eheleute Brey deutsche Rentner_innen waren, die ihren wohlverdienten Lebensabend gern in den Alpen verbringen wollten?

Falls ich dem Generalanwalt mit dieser Frage zu nahe treten sollte, entschuldige ich mich ausdrücklich. Die bundesdeutsche Realität zeigt jedoch, dass eine solche Unterstellung zwar bösartig, aber leider nicht völlig abwegig ist.

2. Woher weiß der Generalanwalt eigentlich so sicher, dass Frau Dano „einzig und allein“ nach Deutschland eingereist ist, um Sozialhilfeleistungen zu beziehen? Das Jobcenter Leipzig jedenfalls dürfte diese Frage kaum geprüft haben. Denn es besteht – anders als der Generalanwalt es in seinem Schlussantrag suggeriert – im SGB II, dem Frau Dano unzweifelhaft dem Grunde nach unterliegt, überhaupt kein Leistungsausschluss für Personen, die eingereist seien, um Sozialhilfe zu beziehen. Ein solcher besteht vielmehr nur für Personen mit einem Aufenthaltsrecht allein zu Arbeitsuche. Insofern dürfte das Jobcenter und auch das Sozialgericht Leipzig über Frau Danos Einreisemotiv auch keine Erkenntnisse haben.

Vielleicht ist Frau Dano ja auch eingereist, um bei ihrer Schwester zu leben, dem Elend zu entrinnen, der Stigmatisierung zu entkommen, ihrem Kind eine bessere Perspektive und eine angemessene Bildung bieten zu können, einen Schulabschluss nachholen zu wollen, oder aus ganz anderen Gründen. Vielleicht ist sie eingereist, um Kindergeld, Elterngeld und Unterhaltsvorschuss beziehen zu können. Hierbei handelt es sich unzweifelhaft nicht um Sozialhilfeleistungen, und weder in der Unionsbürgerrichtlinie noch im Freizügigkeitsgesetz ist deren Bezug als schädlich definiert.

Und spricht nicht die Tatsache, dass Frau Dano nunmehr seit über drei Jahren ohne den Bezug von Sozialhilfeleistungen in Deutschland (über-)lebt und dennoch hierbleibt, schon für sich gegen die Unterstellung, sie sei „einzig und allein“ eingereist, um Sozialhilfe zu beziehen?

3. Warum geht der Generalanwalt davon aus, dass Frau Danos potenzieller Sozialhilfezug sich „auf unbestimmte Zeit verlängert, weil überhaupt nicht nach Arbeit gesucht wird“? Könnte es nicht sein, dass der Zugang zu gesellschaftlichen Regelsystemen (so kritikwürdig sie auch immer sein mögen) eine gewisse integrative Kraft entfaltet? Im Klartext: Dass die Inanspruchnahme einer „Hybridleistung“ wie der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht nur die Frage klären würde, wovon ich morgen das Essen für mich und mein Kind bezahlen soll, sondern auch notwendige (und im Idealfall: auch hinreichende) Bedingung für die Integration in den Arbeitsmarkt ist?

Wie dem auch sei – die verkrampfte Argumentation des Generalanwalts in der Rechtssache Dano macht dreierlei deutlich:

1. Das Recht der EU ist formalistisch, bürokratisch und für einen Normalsterblichen kaum noch durchschaubar. Es muss klar, nachvollziehbar und menschlich formuliert und ausgestaltet werden. Die Voraussetzungen dafür sind vorhanden.

2. Das Recht der Nationalstaaten (in diesem Fall: Deutschland) ist anachronistisch. Es muss an die entgrenzte europäische Wirklichkeit angepasst und von nationalstaatlichen (und implizit: ethnischen) Ausschlusskriterien entrümpelt werden. Dies wird ein harter Kampf.

3. Die bereits bestehenden Rechtsinstrumente in Form der Europäischen Grundrechtecharta, der Europäischen Sozialcharta des Europarats, des UN-Sozialpakts fristen ein unverdientes Nischendasein. Nicht überraschend hat sich der Generalanwalt bezogen auf die Frage, ob mit dem Ausschluss von existenzsichernden Leistungen die Grundrechte der EU (z. B. die Menschenwürde) verletzt werden, für nicht zuständig erklärt.

Europa braucht einen Sozialgerichtshof, um transnationaler Lebenswirklichkeit gerecht werden und dem hegemonialen Modell des homo oeconomicus europaeus etwas Handfestes entgegen setzen zu können. Es wird Zeit, dass der „Marktbürger“ auch in der Rechtswirklichkeit abgelöst wird durch den „Menschen“. Frau Dano jedenfalls hat dafür ihren Teil getan. (Claudius Voigt, Projekt Q – Büro für Qualifizierung der Flüchtlingsberatung – Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V.)