Bürgergeld: Gericht kippt Mietgrenze des Jobcenters

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Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat die Mietobergrenze eines Jobcenters für unwirksam erklärt. Die Richter gaben einer alleinstehenden Bürgergeld-Empfängerin Recht, deren Bruttokaltmiete über dem vom Jobcenter festgesetzten Grenzwert lag.

Entscheidend war, dass das von einem externen Dienstleister erstellte „schlüssige Konzept“ des Leistungsträgers den örtlichen Wohnungsmarkt nur unzureichend abbildete und deshalb nicht als belastbare Grundlage dienen konnte.

Dauerstreit um die Kosten der Unterkunft

Seit Einführung des Bürgergeldes ist die Frage der „Angemessenheit“ der Wohnkosten ein Dauerbrenner vor den Sozialgerichten. Jobcenter dürfen nur die nach § 22 SGB II angemessenen Aufwendungen übernehmen. Weil der Gesetzgeber keine festen Zahlen vorgibt, müssen die Behörden eigene Konzepte entwickeln.

Sie sollen Größe, Standard und Mieten im unteren Marktsegment des jeweiligen Vergleichsraums erfassen und dabei sicherstellen, dass Bedürftige tatsächlich eine bezahlbare Wohnung finden können. Immer wieder beanstanden Gerichte allerdings, dass die Behörden diese Vorgaben verfehlen – so auch im vorliegenden Verfahren.

Vom Kostensenkungsverfahren bis in die zweite Instanz

Die 1951 geborene Klägerin bewohnte eine 60-Quadratmeter-Wohnung mit einer Bruttokaltmiete von 406,60 Euro und Heizkosten von 59 Euro. Das Jobcenter hielt lediglich 304,72 Euro für tragbar und leitete ein Kostensenkungsverfahren ein, verbunden mit der Aufforderung zum Umzug. Weil die Frau trotz umfangreicher Suche keine günstigere Wohnung fand, kürzte die Behörde die Leistungen.

Das Sozialgericht Gießen hob die Kürzung zunächst auf. In der Berufung stellte das LSG zwar fest, dass die Wohnung für eine Einzelperson etwas zu groß sei, verurteilte das Jobcenter aber dennoch zur Zahlung von 363 Euro monatlich – 58,28 Euro mehr, als die Behörde zuletzt bewilligt hatte.

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Warum das Konzept des Jobcenters scheiterte

Das Problem war die Datengrundlage. Von insgesamt 7 433 erhobenen Mietwerten stammten nur 1,4 Prozent von privaten Vermietern, obwohl diese im betroffenen Landkreis rund 60 Prozent des Bestandes ausmachen.

Der überwiegende Teil basierte auf Angaben weniger großer Wohnungsgesellschaften.

Die behauptete „Gewichtung“ zur Korrektur dieser Schieflage blieb für das Gericht nicht nachvollziehbar. Auch der Umstand, dass innerhalb einer Stadt künstlich mehrere „Wohnungsmarkttypen“ mit unterschiedlichen Grenzwerten gebildet wurden, ohne dass das Sozialgesetz solche Unterteilungen vorsieht, werteten die Richter als zusätzlichen methodischen Fehler.

Rechtliche Definition für ein schlüssiges Konzept

Der Begriff des schlüssigen Konzepts ist seit Jahren durch das Bundesozialgericht (BSG) geprägt. Schon 2012 stellte das BSG klar, dass Datenerhebungen repräsentativ sein müssen und sämtliche Vermietergruppen entsprechend ihrem Marktanteil einbeziehen sollen (Az. B 4 AS 109/11 R).

Später bekräftigte das Gericht, dass die erhobenen Werte zeit- und realitätsgerecht sein müssen und nicht hinter der tatsächlichen Marktentwicklung zurückbleiben dürfen (Az. B 4 AS 11/20 R).

Realität statt Rechenmodell

Neben methodischen Mängeln kritisierte das LSG den fehlenden Praxisbezug: Das Jobcenter konnte nicht belegen, dass im fraglichen Zeitraum überhaupt genügend Wohnungen zu den ermittelten Höchstbeträgen verfügbar waren. Eine abstrakte Grenzziehung sei wertlos, wenn Betroffene keine Chance haben, innerhalb dieser Grenzen tatsächlich eine Unterkunft zu finden.

In solchen Fällen dürfen Gerichte auf die Tabellenwerte des Wohngelds zuzüglich eines Sicherheitszuschlags von zehn Prozent zurückgreifen – eine Rechtsfolge, die das Bundessozialgericht in zahlreichen Entscheidungen gebilligt hat, weil sie den Schutzbedarf der Leistungsberechtigten wahrt.

Folgen für Bürgergeld-Berechtigte

Für Betroffene bedeutet das Urteil mehr als einen kleinen Zuschlag. Wer eine Kostensenkungsaufforderung erhält, steht unter massivem Druck, den Lebensmittelpunkt zu wechseln – oft ohne realistische Aussicht, eine passende Wohnung zu finden.

Wenn sich Gerichte vermehrt gegen unrealistische Obergrenzen stellen, sinkt das Risiko, unbegründet in die Obdachlosigkeit oder in prekarisierte Stadtviertel gedrängt zu werden.

Signalwirkung über Hessen hinaus

Obwohl das Urteil unmittelbar nur für den hessischen Landkreis gilt, entfaltet es bundesweite Resonanz. Erstens zeigt es, dass Gerichte die oft kostspieligen Gutachten privater Dienstleister nicht ungeprüft akzeptieren. Zweitens illustriert es, dass formale Rechenmodelle ohne Marktprüfung scheitern.

Schließlich macht das Verfahren deutlich, dass Bundes- und Landespolitik gefragt sind, verbindliche Mindeststandards für die Datenerhebung festzulegen, um jahrelange Rechtsstreite zu vermeiden.

Debatte um Transparenz und Wohnraumpolitik

Wohnungs- und Sozialverbände sehen in der Entscheidung Rückenwind für ihre Forderung nach realistischeren Mietobergrenzen angesichts des angespannten Wohnungsmarkts. Kommunale Spitzenverbände warnen hingegen vor steigenden Haushaltsbelastungen, sollte der Bund die Zusatzkosten nicht kompensieren.

Die Bundesregierung verweist auf geplante Vereinfachungen im Bürgergeld-System – doch ohne ausreichenden sozialen Wohnungsbau drohen künftige Grenzwerte erneut an der Realität zu scheitern.

Fazit: Repräsentative Daten statt Sparlogik

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts bringt die zentrale Botschaft auf den Punkt: Wer von Bürgergeld-Beziehern verlangt, den gesamten Wohnungsmarkt auszuschöpfen, muss selbst den gesamten Markt abbilden. Nur ein Konzept, das die wirklichen Mieten und die Verfügbarkeit geeigneter Wohnungen berücksichtigt, verdient das Prädikat „schlüssig“.

Alles andere produziert Rechtsstreite, soziale Verwerfungen und vermeidbare Verwaltungskosten. Um das Grundrecht auf Wohnen wirkungsvoll zu schützen, braucht es transparente, repräsentative Datenerhebungen – und eine Wohnraumpolitik, die den unteren Marktsegmenten endlich Priorität einräumt. (Aktenzeichen: L 9 AS 138/19)