Bürgergeld: Fahrtkosten zur Ausübung des Umgangsrechts mit dem Kind – Richter mit Herz

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Übernimmt das Jobcenter 16 x die Fahrtkosten der Mutter zu ihrem 70 km weit entfernten, minderjährigen Sohn als Mehrbedarf, wenn der Junge in einer Jugendhilfeeinrichtung für förderungsbedürftige Kinder untergebracht ist?

Jepp, denn hier war ein Richter mit Herz an der Arbeit und sah mit offenen Augen den Einzelfall sowie die zentrale Rolle der Familie bei der Entwicklung von Kindern mit Beeinträchtigungen!

SGB 2: Bürgergeld – Mehrbedarf für Fahrtkosten zur Ausübung des Umgangsrechts mit dem Kind

Die notwendigen Fahrtkosten der Mutter, um ihren minderjährigen Sohn in der Jugendhilfeeinrichtung abzuholen und ihn dorthin wieder zurückzubringen, stellen angesichts ihres Umfangs, der deutlich über die im Regelbedarf vorgesehenen Mittel für Mobilitätsaufwendungen hinausgehen, einen bei der Leistungsberechnung zu berücksichtigenden Härtefall – Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II dar.

SG Darmstadt, 22. Juli 2021, S 1 AS 264/21 ER – bestätigt durch LSG Hessen, Beschluss v. 06.09.2021 – L 6 AS 381/21 B ER –

Der Bedarf ist auch unabweisbar

Der Bedarf ist auch unabweisbar, denn die Höhe der Fahrtkosten der wöchentlichen Fahrten von insgesamt 283,2 km ist unstreitig nicht im Mobilitätsanteil des Regelsatzes enthalten. weder durch Einsparungen der Familie noch durch Dritte können diese Kosten gedeckt werden.

Hier sind in der Höhe der Fahrtkosten die Kosten der Wahrnehmung des Umgangsrechts zu gewähren, die mit einem Auto zurück gelegt wurden.

Öffentliche Verkehrsmittel sind auf Grund der Beeinträchtigungen beim 14- jährigen Jugendlichen nicht zumutbar

Der minderjährige Kind hat einen besonderen Förderungsbedarf, was sich schon aus der Spezialisierung der Jugendhilfeeinrichtung, dem Heilpädagogium auf förderungsbedürftige Kinder ergibt.

Mit öffentlichen Verkehrsmitteln würde eine Fahrtzeit von 2 bis 2,5 Stunden, bei mehrmaligem Umsteigen, benötigt.

Gericht hält es für glaubhaft, dass eine wöchentliche Rückkehr zur Familie und damit der daraus entstehende Bedarf unabweisbar ist.

Das Kind ist erst 14 Jahre alt, so dass die Verbindung zur Familie in aller Regel entwicklungspsychologisch noch von zentraler Bedeutung ist. Ein möglichst enger und regelmäßiger Kontakt sind nötig!

Wöchentlicher Besuchskontakt muss vom Jobcenter übernommen werden

Die wöchentlichen Besuchskontakte geschehen im Einvernehmen mit dem Einrichtungsträger des Jungen. Die wöchentliche Heimkehr ist auch sinnvoll und nötig wegen engem Kontakt zur Familie.

Denn angesichts der zentralen und durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Interessen, die danach mit der wöchentlichen Heimkehr verbunden sind, hat der Jobcenter auch die mit dieser verbundenen Aufwendungen (einstweilen) zu übernehmen, nachdem diese angesichts der überschaubaren Entfernung auch nicht übermäßig hoch sind.

Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht günstiger

Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht günstiger, denn der Jugendliche muss auf Grund seines Alters von seiner Mutter begleitet werden.

Für die Festlegung der Höhe der Fahrtkosten ist die kürzeste Wegstrecke von 70,8 km, sowie der Umstand, dass diese Strecke monatlich 16 Mal zurückgelegt wird und eine Kilometerpauschale in Höhe von 0,20 € pro gefahrenem Kilometer in entsprechender Anwendung des § 5 Abs. 1 S. 2 BRKG zugrunde zu legen.

Vorliegen eine temporären Bedarfsgemeinschaft des Jugendlichen mit den anderen Familienmitgliedern

Eine temporäre Bedarfsgemeinschaft besteht in der Regel für jeden Tag, an dem der Hilfebedürftige sich länger als 12 Stunden in dieser Bedarfsgemeinschaft aufhält (vgl. BSG, Urt. v. 02.07.2009 – B 14 AS 75/08 R).

Jeden Samstag und Sonntag, ist der Jugendliche temporäres Mitglied der Bedarfsgemeinschaft. Der Umgangshilfebedarf umfasst für die Tage des Aufenthalts den Regelbedarf nach der Formel: Regelbedarf des Kindes/30 x Zahl der Aufenthaltstage (Münder/Geiger, SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende, SGB II § 7 Rn. 109).

Keine Anrechnung des Kindergeldes weder bei Mutter noch beim Jungen – keine bereiten Mittel

Wird ein Jugendlicher in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht, kann das für diesen gezahlte Kindergeld weder bei diesem selbst noch bei dem kindergeldberechtigten Elternteil bedarfsmindernd auf einen Leistungsanspruch nach dem SGB II angerechnet werden.

Wenn der kindergeldberechtigte Elternteil nach § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII einen entsprechenden Betrag auf Grund einer Heranziehung zu den Kosten der Jugendhilfeleistungen an den Jugendhilfeträger zu zahlen verpflichtet ist und zahlt.

Anmerkung Redakteur Detlef Brock

Sehr, sehr gute Entscheidung, denn hier war ein Richter mit Herz am Werke.

1. Immerhin wurden monatlich 16 x die Fahrtkosten anerkannt.

2. Dem 14- jährigen Jungen wäre bei Nicht- Vorliegen seiner Beeinträchtigungen durch aus ein öffentliches Verkehrsmittel zumutbar gewesen – auch ohne Begleitung der Mutter

3. Auch für Jugendliche kann eine Begleitung erforderlich sein , wenn Besonderheiten beim Kind vorliegen .

4. Man hat hier sehr die familiäre Bindung des Kindes zu seiner Familie berücksichtigt, denn der Junge war ja nicht umsonst in einer Jugendhilfeeinrichtung, d. h. sehr enge Beziehung und Kontakte waren zu berücksichtigen, was das Gericht auch tat ( Art. 6 Abs. 1 GG).

5. Immer wieder sage ich, es kommt auf den Einzelfall an, welche Besonderheiten sind gegeben.

Umgangsrecht – Fahrkosten – öffentliche Verkehrsmittel – Alter

SG Karlsruhe Urteil vom 23.9.2013, S 11 AS 2299/13, Rn. 26 für 10- jährige ist in der Lage, die Wegstrecke mit öffentlichen Verkehrsmitteln selbstständig zurückzulegen ( 25 km ), LSG Bayern, Beschluss vom 25.06.2010, L 7 AS 404/10 B ER, Rn. 25 für 14-jährige Kinder; LSG Nordrhein-Westfahlen, Beschluss vom 20.09.2010, L 6 AS 1097/10 B, Rn. 9 bei 10-jährigen Kindern ablehnend bei weiten Entfernungen.

BSG, Urteil vom 18.11.2015 – B 4 AS 4/14 R, Rn. 17 wonach die Mutter des Kindes ihre Zustimmung dazu verweigert hatte, dass das zehn- bzw elfjährige Kind die Zugfahrt alleine unternehmen zu lassen ( Im vorliegenden Fall war jedoch nur über Leistungen bis zum Zuzug des Kindes zum Kläger zu befinden, sodass ungeprüft bleiben konnte, ob der Bedarf auch in Zukunft entstehen oder ggf entfallen wird, etwa weil im Hinblick auf das Alter und den Entwicklungsstand des Kindes es nicht mehr erforderlich sein wird, das Kind abzuholen.

BSG, Urt. v. 04.06.2014 – B 14 AS 30/13 R, Rn. 21 für ein vierjährigen Kind nicht vorhergesagt werden kann, wann es in der Lage sein wird, die Wegstrecke eigenständig zu bewältigen.

Wissenswertes recherchiert vom Redakteur Detlef Brock

Ein besonderer Bedarf kann wegen der Fahrtkosten für den Besuch des leiblichen Kindes nach der Rechtsprechung des BSG auch dann entstehen, wenn die miteinander verheirateten Eltern zwar an zwei Wohnorten, aber nicht im familienrechtlichen Sinne dauernd getrennt leben (BSG v. 11.02.2015 – B 4 AS 27/14 R – ).

Das Jobcenter muss einer Mutter die Fahrtkosten zum Flughafen und dort entstehenden Parkgebühren in Höhe von 27 € monatlich als Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB 2 zahlen, damit das Umgangsrecht des Vaters mit der Tochter gewährleistet ist ( SG Reutlingen S 7 AS 2094/12).

Keine Bagatellgrenze von 10% des Regelbedarfs für Umgangskosten mit Kind ( BSG, Urteil v. 04.06.2014 – B 14 AS 30/13 R – ).

Fahrtkosten für Ausübung des Umgangsrechts mit dem eigenen Kind nur in Höhe des günstigsten Bahntickets – unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls!!! ( BSG, Urt. v. 18.11.2014 – B 4 AS 4/14 R-).

Lesetipp:

Lesen Sie auch dazu den Beitrag meines Kollegen Sebastian Bertram: Kindesumgang führt nicht zur Bürgergeld-Kürzung der Mutter (BSG, Urt. v. 28.09.2023 – B 7 AS 13/22 R – )