Hartz IV und das Urteil des BVerfG – eine Schlussbetrachtung
Am 9. Februar 2010 hat erstmals seit Gründung der BRD das höchste Deutsche Gericht über die im Grundgesetz garantierte Grundsicherungspflicht des Staates geurteilt. Auch wenn es dabei keine rückwirkende Entscheidung gab, auf die Millionen von ALG II-Beziehern hofften, sollten wir nicht vergessen und anerkennen, das Th. Kallay mit seiner Klage Deutsche Geschichte geschrieben hat, denn es war das erste Mal seit bestehen der BRD, dass die Umsetzung der im Grundgesetz verankerte Pflicht zur Grundsicherung seiner Bürger verfassungsrechtlich überprüft wurde. Und das höchste deutsche Gericht hat eindeutig erklärt, dass die derzeitige Berechnung, und damit logischerweise auch die Höhe, der Regelleistung ganz eindeutig rechtswidrig ist – u.a. weil dabei Kürzungen ohne jeden Grund vorgenommen wurden. Das diese fiesen, amoralischen und unmenschlichen Betrügereien an den Ärmsten aufgedeckt und öffentlich gemacht wurden, haben wir auch Th. Kallay zu verdanken. Ihm und den anderen Klägern gebührt der Dank von 6 Millionen ALG II-Beziehern, die ab 2011 eine dann endlich (und hoffentlich) bedarfsdeckende Grundsicherung erhalten werden.
Es war wie der Kampf David gegen Goliath, und Goliath hat mächtig eins drauf bekommen, das steht außer Frage – auch wenn er natürlich am Leben gelassen wurde (wir sind ja schließlich zivilisiert) und stattdessen Zeit bekam, Reue zu zeigen, Buße zu tun und sich in Zukunft gesetzestreu zu verhalten.
"Reue" kommt im Wortschatz unserer kritikunfähigen und selbstverliebten Politiker bekanntermaßen nicht vor, aber bei einigen scheint das Urteil doch – schon verschüttete – Moralvorstellungen wie Mut zur Ehrlichkeit zutage gefördert zu haben, die sich nun gegen solche ewig gestrigen Schützengrabenpropagandisten wie Guido Westerwelle stellen, dem offenbar nichts "heilig", Lügen jederzeit legitime Mittel zum Zweck und jedwede Menschlichkeit fremd sind.
Ob sie büßen werden? Wohl kaum, schließlich haben sie durch eben das selbe Grundgesetz, dass auch die Grundsicherung garantiert, eine "gehe-nicht-ins-Gefängnis"-Freikarte für den Mist, den sie als Bundestagsabgeordnete und Minister verzapfen – sei er noch so amoralisch, unmenschlich und rechtswidrig. Aber sie müssen sich bei der Höhe der Grundsicherung in Zukunft gesetzestreu verhalten, da kommen sie nicht drum herum, denn das Grundgesetz gilt für jeden Deutschen gleich, egal ob Politiker oder ALG II-Empfänger.
Die Höhe der Regelleistung war nur ein Punkt auf einer langen Liste, bei dem bewusst betrogen wurde, um Kosten zu sparen. Es gibt genügend andere Baustellen des SGB II, wo ALG II-Bezieher nach wie vor bewusst um ihnen zustehende Leistungen betrogen werden, sei es die unzulässige Pauschalierung von Unterkunftskosten (wo gerade Berlin als leuchtendes Negativbeispiel voraus geht), von Umzugs- und Wohnungsbeschaffungkosten, die willkürliche Festlegung von angeblich angemessenen Kaltmieten, für die man aber gar keine Wohnungen findet, die rechtswidrige Anrechnung von Einkommen, das die Betroffenen tatsächlich gar nicht erhalten (insbesondere bei Selbstständigen), die nicht bedarfsdeckende und damit rechtswidrige Pauschalierung von Mehrbedarfen, oder die Unterstellung von Bedarfs-, Haushalts oder Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaften ohne jeden Beweis einer tatsächlichen wirtschaftlichen Unterstützung.
Der Kampf um soziale Gerechtigkeit und das, was das Existenzminimum darstellt, geht weiter. Und hier sollte sich jeder einzelne wehren, denn solange bei den Sozialausgaben – insbesondere bei ALG II – das Profitdenken nicht nur über der Menschlichkeit, sondern auch über dem Recht steht, wird es immer wieder Bestrebungen geben, rechtswidrig und auf Kosten der Betroffenen Gelder zu sparen.
Und solange man in dem von Politik und Wirtschaft seit Jahrzehnten eingehämmerten Denkmuster: Arbeitslos = Sozialschmarotzer, verhaftet bleibt und dies in den Mittelpunkt der Sozialpolitik stellt, statt sich der Realität zu stellen, wird sich daran nichts ändern. Aber noch immer lohnt es sich in diesem Land, für sein Recht zu kämpfen – auch als ALG II-Bezieher, die hohen Erfolgsquoten von Widersprüchen und Klagen beweisen das. (06.03.2010)
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