Das Bundessozialgericht hat am 2. Dezember 2025 in drei Revisionsverfahren entschieden, dass die Bürgergeld-Regelsätze für das Jahr 2022 verfassungsrechtlich Bestand haben. Der 7. Senat kam zu dem Ergebnis, dass die Leistungen nicht in einer Weise zu niedrig bemessen waren, die das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verletzt.
Die Revisionen scheiterten, eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht lehnte das Gericht ab. Für die meisten Leistungsberechtigten dürfte diese Entscheidung eine herbe Enttäuschung sein.
Damit endet ein Streit, der sich an einem Jahr entzündete, in dem viele Haushalte einen spürbaren Kaufkraftverlust erlebten. Aus Sicht der Klägerinnen und Kläger und ihrer Unterstützer stand 2022 für eine Entwicklung, die in der Grundsicherung besonders hart durchschlägt: Wenn Preise schneller steigen als pauschalierte Leistungen, vergrößert sich die Lücke zwischen dem, was rechnerisch vorgesehen ist, und dem, was im Alltag tatsächlich bezahlt werden muss.
Drei Verfahren, ein gemeinsamer Vorwurf
Gegenstand der Verfahren mit den Aktenzeichen B 7 AS 20/24 R, B 7 AS 30/24 R und B 7 AS 6/25 R war die Frage, ob der Staat im Jahr 2022 ausreichend für das Existenzminimum gesorgt hat. Die Fallkonstellationen unterschieden sich, die Richtung der Argumentation war ähnlich: Die Regelbedarfe seien angesichts der Preisentwicklung nicht mehr auskömmlich gewesen. In den Vorinstanzen waren die Klagen abgewiesen worden; in Kassel ging es nun um die verfassungsrechtliche Einordnung.
Das Gericht ließ erkennen, dass es die sozialen und ökonomischen Verwerfungen des Jahres 2022 nicht kleinredet. Es stellte aber zugleich klar, dass hohe Inflation allein noch nicht automatisch zur Verfassungswidrigkeit führt. Entscheidend war aus Sicht des Senats, ob die Leistungen „evident“ unzureichend waren, also ob sie offensichtlich und unter Berücksichtigung des Gesamtleistungssystems die Sicherung des Existenzminimums verfehlten.
Inflation trifft auf zeitverzögerte Anpassung
Im Verlauf des Jahres 2022 stiegen die regelbedarfsrelevanten Preise deutlich; das Bundessozialgericht spricht von rund zwölf Prozent. Dem stand eine Anpassung der Regelbedarfe zum 1. Januar 2022 von lediglich 0,76 Prozent gegenüber. Diese Diskrepanz war der Ausgangspunkt der Klagen und zugleich der Hintergrund für die gesellschaftliche Debatte, die das Jahr über die Gerichte hinaus begleitete.
In der Grundsicherung wirkt eine solche Dynamik besonders schnell. Wer über Reserven verfügt, kann Preisspitzen überbrücken, Kaufentscheidungen verschieben oder teurere Phasen abfedern.
Wer ohnehin alles für Miete, Energie, Essen und Alltag ausgeben muss, spürt steigende Preise unmittelbar. Genau dieser Realitätscheck war es, den Klägerinnen und Kläger in den Verfahren einforderten: Die Berechnungsverfahren mögen formal korrekt sein, argumentierten sie sinngemäß, doch sie könnten in Krisenjahren am tatsächlichen Bedarf vorbeilaufen.
Warum das Bundessozialgericht die Regelbedarfe 2022 nicht als verfassungswidrig bewertet
Der 7. Senat verneinte eine verfassungswidrige Unterbemessung und stützte sich dabei auf mehrere Überlegungen. Zum einen stellte das Gericht trotz des Kaufkraftverlusts fest, dass die Regelbedarfe nicht in einer Weise zu niedrig waren, die als offensichtlich unzureichend gelten müsste. Das ist eine Aussage, die den sozialen Druck des Jahres nicht bestreitet, aber die verfassungsrechtliche Schwelle nicht überschritten sieht.
Zum anderen betrachtete der Senat nicht allein die pauschalierten Regelbedarfe. Für die Sicherung des Existenzminimums, so die Argumentation, ist das gesamte Leistungsgefüge maßgeblich. Dazu zählen im System des SGB II etwa Leistungen für Unterkunft und Heizung sowie weitere bedarfsbezogene Instrumente.
Mit dieser Gesamtbetrachtung schiebt das Gericht einer rein rechnerischen Gegenüberstellung von Preisindex und Regelbedarf einen Riegel vor und rückt die Funktionsweise der Grundsicherung als zusammengesetztes Leistungspaket in den Vordergrund.
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Bescheid prüfenEntscheidend wurde zudem der Blick auf die Reaktion des Gesetzgebers. Die Preissteigerungen seien im Laufe des Jahres 2022 unvermittelt und besonders stark aufgetreten, auch in Verbindung mit den wirtschaftlichen Folgen des Kriegs gegen die Ukraine.
Der Gesetzgeber habe darauf zeitnah mit einer Einmalzahlung von 200 Euro für Juli 2022 reagiert. Nach der Darstellung des Bundessozialgerichts glich diese Zahlung den Kaufkraftverlust im ersten Halbjahr 2022, ausgehend von der Regelbedarfsstufe 1, rechnerisch aus, der vom Gericht mit rund 85 Euro beziffert wurde.
Schließlich verwies der Senat auf die Reform der Fortschreibung, die zum 1. Januar 2023 in eine deutliche Erhöhung der Regelbedarfe mündete. Für die Regelbedarfsstufe 1 nennt das Gericht eine Erhöhung um 11,8 Prozent. In der Zusammenschau dieser Maßnahmen sah das Bundessozialgericht eine ausreichende Reaktion auf ein außergewöhnliches Inflationsgeschehen.
Einmalzahlung im Sommer 2022: Brücke über eine Ausnahmesituation
Besonders umstritten war in den Verfahren die Einmalzahlung von 200 Euro für Juli 2022. Kritiker sahen darin ein politisches Signal ohne ausreichende Wirkung, zudem wurde die Zweckbestimmung im Gesetzestext – Mehraufwendungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie – als nicht passend zur Inflationslage gelesen.
Das Bundessozialgericht hat die Zahlung dennoch als Bestandteil der Gesamtsicherung betrachtet und im Ergebnis als geeignet bewertet, den kurzfristigen Kaufkraftverlust im ersten Halbjahr zu kompensieren.
Damit nimmt der Senat eine Sicht ein, die in der sozialpolitischen Praxis häufig ist: Wenn ein außergewöhnlicher Preisschock eintritt, kann der Gesetzgeber vorübergehend mit Sonderinstrumenten reagieren, ohne sofort die gesamte Fortschreibungslogik umzuwerfen.
Die Kehrseite bleibt, dass Einmalzahlungen je nach Haushaltssituation, Zeitpunkt der Belastung und Preisstruktur sehr unterschiedlich wirken können. Was rechnerisch einen Durchschnitt ausgleicht, kann im Alltag eines konkreten Haushalts nicht zwingend deckungsgleich ankommen.
Keine Vorlage nach Karlsruhe: Was das rechtlich bedeutet
Weil der 7. Senat keinen Verfassungsverstoß erkannte, setzte er die Verfahren nicht aus und legte sie nicht dem Bundesverfassungsgericht vor. Diese Entscheidung ist mehr als eine Formalie: Ohne Vorlage kommt es nicht zu einer verfassungsrechtlichen Grundsatzprüfung durch Karlsruhe in diesen Verfahren.
Gleichwohl ist damit nicht entschieden, dass es verfassungsrechtlich nie Fragen zur Regelbedarfsbemessung geben kann. Betroffene können grundsätzlich weiterhin Verfassungsbeschwerde erheben, sie trägt allerdings ein hohes Risiko und muss strenge Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllen. Nach Berichten über die Entscheidung wird geprüft, ob dieser Weg beschritten wird.
Folgen für Betroffene: Keine rückwirkende Erhöhung, aber weiter Streit um Angemessenheit
Unmittelbar bedeutet die Kasseler Entscheidung, dass für das Jahr 2022 keine nachträgliche Erhöhung der Regelbedarfe aus verfassungsrechtlichen Gründen zu erwarten ist.
Für viele Leistungsberechtigte, die die Preissteigerungen eher als dauerhaften Einschnitt denn als vorübergehende Delle erlebt haben, wird das Urteil daher zurecht als ernüchternd wahrgenommen werden.




