Krankengeld: Anspruch besteht auch bei festgestellter Arbeitsfähigkeit

„Ein Anspruch auf Krankengeld darf nicht an der fehlenden ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit scheitern, wenn dies darauf beruhte, dass der Arzt zu Unrecht davon ausgegangen ist, dass sich die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit nicht mehr an der bisherigen Tätigkeit des Versicherten orientiert.“

An diesem Leitsatz orientierte sich das Landessozialgericht Baden-Württemberg und verpflichte die Krankenkasse damit, der Witwe eines Betroffenen posthum das Krankengeld auszuzahlen. (L 11 KR 472/11)

Depressiv und alkoholkrank

Der Betroffene arbeitete versicherungspflichtig als Taxifahrer. Seit dem 13.08.2007 erkrankte er arbeitsunfähig wegen einer Depression und Alkoholismus. Sein Arbeitsverhältnis endetete zum 30.09.2007. Die Krankenkasse zahlte ihm vom 24.09.2007 bis zum 30.09.2007 Krankengeld, und im Anschluss bezog er Arbeitslosengeld.

Ab dem 22.10.2007 wurde Arbeitsunfähigkeit wegen einer schweren depressiven Episode festgestellt. Nach einem Klageverfahren beim Sozialgericht Reutlingen bewilligte die Krankenkasse durchgehend Krankengeld seit dem 30.09.2007 (S 1 KR 1700/08).

Vom 13.12.2007 bis 11.01.2008 wurde der Betroffene stationär behandelt. Am 11.01.2008 stellte sein Hausarzt ihm eine Folgebescheinigung aus. Vom 21.01.2008 bis 04.03.2008 kam er wieder in eine Klinik. Ein dortiger Psychiater erklärte am 04.03.2008, dass er wieder arbeitsfähig sei.

Psychische und körperliche Leiden

Die Diagnosen lauteten kombinierte Persönlichkeitsstörung mit ängstlich-selbstunsicheren und abhängigen Anteilen, depressive Störung, derzeit mittelgradige Episode, Alkoholabhängigkeit, Nikotinabhängigkeit, alkoholtoxisch bedingte Leberzirrhose, Osteoporose mit Wirbelkörpereinbrüchen und Fersenbeinfraktur.

Krankschreibung vom Hausarzt

Sein Hausarzt schrieb ihm vom 0503.2008 bis zum 21.03.2008 erneut krank und gab als Diagnose Arthrose an.

Am 25.03.2008 bescheinigte er eine Arbeitsunfähigkeit bis voraussichtlich 31.03.2008, und am 01.04.2008 verlängerte er diese bis zum 04.04.2008.

Ein Orthopäde stellte Auszahlscheine am 30.04.2008, dem 20.05.2008, dem 05.06.2008, dem 01.07.2008, dem 17.07.2008, dem 18.08.2008, dem 16.09.2008, dem 14.10.2008, dem 17.11.2008, dem 10.12.2008 und dem 07.01.2009 aus (alle mit offenem Ende der Arbeitsunfähigkeit). Die Bescheinigungen erreichten die Krankenkasse alle fristgerecht.

Arbeitslosengeld und Gutachten des Ärztlichen Dienstes

Am 01.04.2008 meldete der Betroffene sich arbeitslos. Er bezog vom 05.04.2008 bis 06.01.2009 Arbeitslosengeld. Ein Hutachten des Ärztlichen Dienstes von Mai 2008 hielt ihn für fähig, vollschichtig leichte Tätigkeiten überwiegend im Sitzen auszuüben. Tätigkeiten mit Fahr-, Überwachungs- und Steuerfunktion wurden ausgeschlossen.

Krankenversicherung hält Betroffenen für arbeitsfähig

Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung stufte den betroffenen als arbeitsfähig ein und bezog sich auf den Entlassungsbericht der Klinik. Mit dieser Begründung beendete die Krankenkasse das Krankengeld zum 04.04.2008.

Widerspruch wird abgelehnt

Der Betroffene legte Widerspruch ein. Er sei lediglich wegen seiner Depression für arbeitsfähig erklärt worden. Das psychiatrische Krankenhaus habe keine Arbeitsunfähigkeit wegen seiner orthopädischen Beschwerden erstellen dürfen.

Wegen der körperlichen Beschwerden habe die Klinik ihn an seinen Hausarzt verwiesen, der ihn arbeitsunfähig geschrieben hätte. Die Krankenkasse wies den Widerspruch zurück. Der Betroffen reichte Klage vor dem Sozialgericht ein.

Es geht um die Arbeit als Taxifahrer

Der Betroffene begründete die Klage, der Bezug des Krankengeldes sei auf seine letzte Tätigkeit als Taxifahrer abzustellen. Die orthopädischen Erkrankungen seien während seines stationären Aufenthalts hinzugekommen und hätten ab März 2008 allein die Arbeitsunfähigkeit verursacht.

Der Medizinische Dienst hätte ausdrücklich eine Tätigkeit mit Fahr-, Überwachungs- und Steuerfunktion ausgeschlossen. Damit sei er durchgehend arbeitsunfähig für seine frühere Tätigkeit als Taxifahrer gewesen.

Hausarzt bestätigt orthopädische Beschwerden

Der Hausarzt bestätigte als sachverständiger Zeuge orthopädische Beschwerden und eine Alkoholkrankheit. Eine Besserung sei nicht in Sicht, und die Arbeitsunfähigkeit beziehe sich alle Tätigkeiten.

Sozialgericht weist Klage ab

Das Sozialgericht wies die Klage ab. „Der Krankengeldanspruch habe am 04.03.2008 geendet, da die erneute Arbeitsunfähigkeit erst am 05.03.2008 und damit nicht durchgehend festgestellt worden sei.

Ob K tatsächlich arbeitsunfähig gewesen sei, könne dahinstehen. Anhaltspunkte für einen Ausnahmefall, in dem eine unterbliebene ärztliche Feststellung von Arbeitsunfähigkeit ausnahmsweise rückwirkend nachgeholt werden könne, seien nicht ersichtlich.“

Landessozialgericht verurteilt Krankenkasse zur Zahlung

Der Betroffene ging in Berufung vor das Landessozialgericht. Hier bestätigte der Chefarzt des Zentrums für Psychiatrie, in dem der Betroffene für arbeitsfähig erklärt worden war, dass diese Beurteilung ausschließlich aus psychiatrischer Sicht und und nicht aus orthopädischer Sicht erfolgt sei.

Das Landessozialgericht erklärte, der Betroffene sei über den 04.03.2008 hinaus mindestens bis zum 06.01.2009 arbeitsunfähig krank gewesen.

Kritik am Maßstab der Krankenkasse

Die Richter erläuterten, dass der Maßstab für die Beurteilung von Arbeitsunfähigkeit die vorherige Tätigkeit als Taxifahrer sei sowie gleich oder ähnlich geartete Tätigkeiten. Arbeitsunfähigkeit leige vor, wenn Versicherte die „an ihren Arbeitsplatz gestellten beruflichen Anforderungen aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr erfüllen können.“

Die Richter führten aus:

„Die Krankenkasse darf diese Versicherten, solange das Arbeitsverhältnis besteht, nicht auf Tätigkeiten bei einem anderen Arbeitgeber “verweisen”, die sie gesundheitlich noch ausüben könnten. Dem krankenversicherten Arbeitnehmer soll durch die Krg-Gewährung nämlich gerade die Möglichkeit offen gehalten werden, nach Beseitigung des Leistungshindernisses seine bisherige Arbeit wieder aufzunehmen.“

Erkrankung war unvereinbar mit Arbeit als Taxifahrer

Tätigkeiten unter den Arbeitsbedingungen eines Taxifahrers sowie gleich oder ähnlich gelagerte Tätigkeiten hätte der Betroffene im umstrittenen Zeitraum nicht ausüben können. Das Krankheitsbild einer depressiven Störung mittelgradiger Episode sowie Alkoholabhängigkeit. sei nicht vereinbar mit der Tätigkeit eines Taxifahrers oder anderer Fahrertätigkeiten.

Das Gutachten der Bundesagentur für Arbeit vom 13.05.2008 hätte diese bestätigt. Demnach lag „eine Alkoholabhängigkeit mit deutlichen Folgeschäden und eine psychische Minderbelastbarkeit vor. Die Gutachterin stellte zwar ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten fest. Ausdrücklich wurden jedoch Tätigkeiten mit Fahr-, Überwachungs- und Steuerungsfunktion ausgeschlossen.“

Irrtümliche Arbeitsfähigkeit steht Krankengeld nicht entgegen

Die Klinik hätte den betroffenen irrtümlich für arbeitsfähig geschrieben, da sie dies nicht auf seine Tätigkeit als Fahrer bezogen habe. Laut Bundessozialgericht scheitere ein Krg-Anspruch „nicht an der fehlenden Meldung (…), wenn dies auf der unzutreffenden rechtlichen Bewertung der Krankenkasse beruhte, die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit habe sich wegen der Aufgabe des Arbeitsplatzes nicht mehr an der zuletzt ausgeübten Tätigkeit auszurichten.“

Mit dieser Begründung entschied das Landessozialgericht, dass der Betroffene im entsprechenden Zeitraum durchgehend Anspruch auf Krankengeld hatte und die Krankenkasse dieses nachzahlen musste.