„Bürgergeld-Empfänger wurden um 12 Prozent besser gestellt als Arbeitnehmer“ – dieser Vorwurf hat der Diskussion über die Grundsicherung zuletzt neuen Schub gegeben.
Der Blick auf die langfristige Entwicklung entkräftet die These jedoch klar. Seit Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 hat sich die Kaufkraftbasis am unteren Ende des Arbeitsmarkts anders entwickelt, als es die emotionale Debatte nahelegt.
Der Mindestlohn stieg zwischen 2015 und 2025 um 50,8 Prozent, der Regelsatz der Grundsicherung (früher Hartz IV, heute Bürgergeld) für Alleinstehende um 41,1 Prozent.
Wer arbeitet, wurde also – gemessen an der zentralen Referenzgröße – im vergangenen Jahrzehnt stärker besser gestellt als Beziehende der Grundsicherung.
Datenlage und Methode: Zwei Referenzreihen im Vergleich
Verglichen werden zwei klar definierte Größen: der gesetzliche Mindestlohn pro Stunde und der monatliche Regelsatz der Regelbedarfsstufe 1 für Alleinstehende.
Beide Reihen sind politisch gewollt, folgen aber unterschiedlichen Anpassungslogiken. Der Mindestlohn wird auf Vorschlag der Mindestlohnkommission per Rechtsverordnung angehoben.
Der Regelsatz wird über ein statistisches Verfahren und politisch beschlossene Anpassungsmechanismen jährlich fortgeschrieben.
Der hier betrachtete Zeitraum reicht von der Mindestlohneinführung 2015 bis zum Jahr 2025; punktuell wird der bereits beschlossene Mindestlohn für den 1. Januar 2026 einbezogen, um die absehbare Dynamik zu verdeutlichen.
2015 bis 2021: Lange Zeit Gleichschritt
In den ersten Jahren nach Einführung des Mindestlohns verlief die Entwicklung nahezu parallel. 2015 betrug der Mindestlohn 8,50 Euro, der Regelsatz 399 Euro.
Bis 2021 stiegen beide Größen um jeweils 11,8 Prozent: auf 9,50 Euro beim Mindestlohn und 446 Euro beim Regelsatz. In dieser Phase lässt sich also kein systematischer Vorteil für eine der beiden Seiten erkennen. Die Erzählung von der „sozialen Hängematte“ fand in den Daten keinen Halt.
2021 bis 2025: Der Mindestlohn zieht davon
Erst ab 2021 öffnet sich die Schere. Der Mindestlohn wird in mehreren Schritten deutlich angehoben, darunter der markante Sprung auf 12,00 Euro im Jahr 2022.
Zum Jahreswechsel 2024/2025 erfolgt die nächste Anhebung auf 12,82 Euro. In Summe ergibt sich damit von 2015 bis 2025 ein Zuwachs um 50,8 Prozent. Der Regelsatz steigt im selben Zeitraum auf 563 Euro – ein Plus von 41,1 Prozent.
Der viel diskutierte starke Schritt im Jahr 2023 – damals ein Plus von 11,8 Prozent – ändert am Gesamtbild nichts: Über die Dekade liegt der Mindestlohn etwa zehn Prozentpunkte vorn.
Was die Durchschnittswerte verraten
Auch die mittleren jährlichen Veränderungen bestätigen das Bild. Seit 2015 wuchs der Mindestlohn im Schnitt um 4,2 Prozent pro Jahr, der Regelsatz um 3,5 Prozent.
Betrachtet man nur die Zeit ab 2021, beschleunigt sich die Dynamik beider Reihen spürbar – allerdings erneut zugunsten des Mindestlohns: durchschnittlich 7,8 Prozent pro Jahr stehen 6,0 Prozent gegenüber. Der Arbeitsmarkt wurde am unteren Ende also politisch deutlich dynamischer aufgewertet als die Grundsicherung.
Lassen Sie Ihren Bescheid kostenlos von Experten prüfen.
Bescheid prüfenDer Rechenbeleg: Wo der Regelsatz liegen müsste
Ein plausibilisierender Quercheck zeigt die Größenordnung: Würde der Regelsatz seit 2015 im selben Tempo wie der Mindestlohn wachsen, ergäbe sich für 2025 ein Wert von rund 602 Euro für Alleinstehende.
Tatsächlich liegt der Regelsatz – nach der Anhebung zum 1. Januar 2024 – 2025 unverändert bei 563 Euro. Die im Diskurs bisweilen behauptete „Gleichstellung“ existiert damit rechnerisch nicht.
Die Lücke dürfte 2026 größer werden
Bereits beschlossen ist die nächste Stufe beim Mindestlohn auf 13,90 Euro zum 1. Januar 2026. Verglichen mit 2015 entspricht das einer Steigerung von rund 63,5 Prozent.
Für den Regelsatz deutet sich hingegen nach der Nullrunde 2025 eine weitere Stagnation 2026 an. Sollte es dabei bleiben, vergrößert sich die Distanz zwischen Mindestlohn- und Regelsatzkurve abermals.
Politisch debattiert wird zwar eine Umbenennung des Bürgergelds in „Neue Grundsicherung“ – die bislang vorgestellten Vorschläge betreffen jedoch vor allem strengere Pflichten, Sanktionen und Verfahren, nicht aber eine Anhebung der Regelsätze.
„Arbeit muss sich lohnen“
Der häufig bemühte Satz, Arbeit müsse sich lohnen, ist legitim – er lässt sich jedoch nicht auf eine Momentaufnahme einzelner Prozentwerte verengen.
Erstens ist der Mindestlohn eine Stundenvergütung, der Regelsatz eine pauschalierte monatliche Bedarfsgröße.
Zweitens wirkt Erwerbsarbeit über das Monatseinkommen hinaus: Sie begründet Rentenansprüche und eröffnet Aufstiegschancen. Drittens umfasst die Grundsicherung mehr als den Regelsatz – etwa die Übernahme angemessener Wohn- und Heizkosten –, während Erwerbseinkommen wiederum Abgaben und Lebenshaltungskosten gegenüberstehen.
Gerade deshalb ist die langfristige Betrachtung der Leitgrößen so wichtig. Sie zeigt: Am unteren Rand des Lohnspektrums sind in den vergangenen Jahren die relativen Verbesserungen stärker als im Grundsicherungssystem ausgefallen.
Die Jahre 2022 und 2023 waren durch außergewöhnlich hohe Inflation geprägt. Das erklärt die kräftigen nominalen Anpassungen sowohl beim Mindestlohn als auch beim Regelsatz.
Wer die Debatte seriös führen will, muss diese Sondersituation mitdenken. Nominale Zuwächse sind in einem Inflationsumfeld notwendig, um Realeinkommen zu stabilisieren; sie sind nicht automatisch ein Zeichen politischer Großzügigkeit. Entscheidend ist daher die Relation über mehrere Jahre – und die fällt zugunsten des Mindestlohns aus.
Fakten entkräften den Mythos
Der verbreitete Eindruck, Bürgergeld-Beziehende seien zuletzt „besser gestellt“ worden als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, hält einer faktenbasierten Prüfung nicht stand.
Seit 2015 hat der Mindestlohn deutlich stärker zugelegt als der Regelsatz, und die Lücke dürfte mit der nächsten Mindestlohnerhöhung 2026 weiter wachsen.
Wer eine ernsthafte Debatte führen will, sollte sich an diesen langfristigen Linien orientieren – nicht an zugespitzten Momentaufnahmen.
Arbeit lohnt sich, und zwar zunehmend. Die Grundsicherung bleibt, was sie ist: ein am Existenzminimum orientiertes Sicherheitsnetz, das mit den Lohnentwicklungen der vergangenen Jahre jedoch nicht Schritt gehalten hat.