Wer kündigt, steht oft vor derselben Frage: Muss ich bis zum letzten Tag weiterarbeiten – oder kann ich mich in der Kündigungsfrist krankschreiben lassen?
Ein aktueller Fall aus Mecklenburg-Vorpommern zeigt, wie Gerichte solche Konstellationen bewerten, wo die arbeitsrechtlichen Leitplanken verlaufen und warum „krank sein“ und „krank machen“ zwei grundverschiedene Dinge sind.
Inhaltsverzeichnis
Der Fall: Kündigung, Krankschreibung, verweigerte Lohnzahlung
Ein angestellter Assistenzarzt mit einem Bruttogehalt von 4.500 Euro kündigte am 28. Februar 2022 fristgerecht zum 31. März. Er arbeitete zunächst rund zwei Wochen weiter und legte dann eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor, die seine Erkrankung bis einschließlich Donnerstag, 31. März, bescheinigte.
Der Arbeitgeber zweifelte die Echtheit der Erkrankung an und verweigerte die Entgeltfortzahlung für den Zeitraum vom 14. bis 31. März.
Begründung: Der Arbeitsplatz sei ungewöhnlich aufgeräumt gewesen, private Gegenstände hätten gefehlt, die Schlüssel seien bereits abgegeben worden – Indizien für eine „geplante“ Krankschreibung. Auffällig sei zudem, dass die Bescheinigung exakt am letzten Tag der Kündigungsfrist endete.
Erste Instanz: Anspruch auf Entgeltfortzahlung bejaht
Das Arbeitsgericht Stralsund gab dem Arzt Recht. Maßgeblich war, dass eine ordnungsgemäße Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlag und die gesetzlichen Voraussetzungen der Entgeltfortzahlung erfüllt waren.
Das Entgeltfortzahlungsgesetz sieht vor, dass bei nachgewiesener Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich Anspruch auf Lohnfortzahlung besteht. Die Bescheinigung begründet einen starken Beweiswert für das Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit. Vage Vermutungen des Arbeitgebers reichen nicht aus, um diesen zu erschüttern.
Berufung vor dem LAG Mecklenburg-Vorpommern: Verdacht ist kein Beweis
In der zweiten Instanz bestätigte das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern die Entscheidung und wies die Berufung des Arbeitgebers zurück. Die Richterinnen und Richter befassten sich ausführlich mit den vorgebrachten „Indizien“ und ordneten sie rechtlich ein.
Zum aufgeräumten Arbeitsplatz stellten sie klar, Ordnung sei kein Indiz für Simulation. Viele Beschäftigte hielten ihren Arbeitsplatz bewusst frei von Privatem, zumal der Raum im konkreten Fall von mehreren Personen genutzt wurde.
Auch die Tatsache, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung an einem Donnerstag endete, war unerheblich. Entscheidend ist der Inhalt der Bescheinigung, nicht der Wochentag.
Der sogenannte objektive Beweiswert der ärztlichen Bescheinigung überwiegt subjektive Eindrücke. Ohne konkrete, substantielle Gegenbeweise bleibt die AU maßgeblich – und der Entgeltanspruch besteht fort.
Der objektive Beweiswert der AU
Die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat im deutschen Arbeitsrecht eine besondere Stellung. Sie ist kein bloßes Stück Papier, sondern ein Beweismittel mit erheblichem Gewicht.
Dieser Beweiswert kann erschüttert werden, aber nur durch konkrete Tatsachen, die ernsthafte Zweifel am attestierten Krankheitsbild begründen. Allgemeine Mutmaßungen, Sticheleien oder zeitliche Auffälligkeiten genügen nicht. Wer als Arbeitgeber die Lohnfortzahlung verweigern will, trägt die Darlegungslast für solche Zweifel. Gelingt das nicht, bleibt der Anspruch bestehen.
Krank sein versus „krank machen“: Wo Strafrecht beginnt
Die Entscheidung bedeutet nicht, dass „krank machen“ ein legitimes Mittel ist, um die Kündigungsfrist zu überbrücken. Wer ohne Krankheit eine AU erschleicht und Entgeltfortzahlung bezieht, erfüllt regelmäßig den Betrugstatbestand.
Der Schaden entsteht zunächst beim Arbeitgeber, der das Gehalt fortzahlt, obwohl keine Arbeitsunfähigkeit besteht. Häufig kommt ein zweiter Aspekt hinzu: Viele Unternehmen lassen sich im Rahmen der Umlage U1 einen erheblichen Teil der Lohnfortzahlung von der Krankenkasse erstatten.
Wer ohne Erkrankung eine AU nutzt, bewirkt damit mittelbar auch eine zu Unrecht erlangte Auszahlung der Krankenkasse an den Arbeitgeber. Das strafrechtliche Risiko verdoppelt sich gewissermaßen, weil zwei Vermögensverschiebungen ohne Rechtsgrund ausgelöst werden.
Praktische Konsequenzen für Beschäftigte
Beschäftigte dürfen selbstverständlich auch in der Kündigungsfrist krank sein. Wer tatsächlich arbeitsunfähig ist und dies ärztlich bescheinigen lässt, hat Anspruch auf Entgeltfortzahlung.
Das gilt unabhängig davon, wie die verbleibende Frist terminiert ist oder an welchem Wochentag die Bescheinigung endet. Vorsicht ist jedoch geboten, wenn der Eindruck entsteht, eine AU werde lediglich „taktisch“ genutzt.
Wer nicht krank ist und trotzdem eine Bescheinigung erwirkt, riskiert arbeitsrechtliche und strafrechtliche Konsequenzen bis hin zur fristlosen Kündigung, Rückzahlungspflichten und strafrechtlicher Verfolgung.
Handlungsspielräume und Sorgfaltspflichten von Arbeitgebern
Arbeitgeber sind nicht wehrlos, wenn ernsthafte Zweifel an einer AU bestehen. Sie dürfen und müssen in solchen Fällen substantiiert vortragen, warum der Beweiswert erschüttert ist.
Der vorliegende Fall zeigt aber, wie hoch die Schwelle liegt: Ordnung am Arbeitsplatz, Schlüsselabgabe oder ein passender Endtermin reichen nicht. Erforderlich sind konkrete, belastbare Umstände, die die ärztliche Feststellung in Frage stellen. Im Übrigen bleibt die Pflicht, bei vorliegender wirksamer AU zu zahlen – solange der Gegenbeweis nicht gelingt.
Einordnung des Urteils: Stärkung der Rechtssicherheit
Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern stärkt die Rechtssicherheit. Sie erinnert daran, dass das System der Entgeltfortzahlung auf einem austarierten Vertrauen in ärztliche Bescheinigungen beruht.
Dieses Vertrauen ist nicht blind, aber es lässt sich nur mit substanziellen Einwänden erschüttern. Für Beschäftigte bedeutet das Schutz vor vorschnellen Zahlungsverweigerungen; für Arbeitgeber die klare Aufforderung, Zweifel sauber zu begründen, statt auf Bauchgefühl zu setzen.
Fazit: Klarheit in der Grauzone der Kündigungsfrist
Der Fall des Assistenzarztes zeigt die Linie der Arbeitsgerichte: Die ordnungsgemäße AU hat Vorrang vor bloßen Verdachtsmomenten. Krank sein in der Kündigungsfrist ist erlaubt und rechtlich abgesichert. „Krank machen“ bleibt dagegen eine riskante und unzulässige Abkürzung mit strafrechtlicher Dimension. Wer sich an diese Trennlinie hält, vermeidet Konflikte, schützt sich vor gravierenden Folgen und wahrt die Fairness, auf der das arbeitsrechtliche Gefüge der Entgeltfortzahlung beruht.




