Laut einer Auswertung des Vergleichsportals Verivox steigen die Strompreise im kommenden Jahr 2023 um rund 61 Prozent. Bei einigen Stromanbietern steigen die Stromkosten sogar um 100 Prozent.
Die Regelleistungen bei Hartz IV sind viel zu niedrig, um die steigenden Kosten abzudecken. Da der Gesetzgeber hierfür keine Abhilfe schafft, sind die Sozialgerichte gefordert.
Inhaltsverzeichnis
Verein will ausgleichen
Für Grundsicherungsbeziehende spitzt sich die Lage immer weiter zu. Die Stromkosten müssen nämlich aus den laufenden SGB II/SGB XII Regelleistungen bezahlt werden. Vereine wie Sanktionsfrei e.V. haben deshalb bereits eine Umverteilungsaktion gestartet, um bei hohen Nachzahlungsforderungen zu helfen. Darüber haben wir hier bereits berichtet.
Das kann allerdings nicht die Lösung sein, weil Hilfeaktionen in der Gänze nur einen “Tropfen auf dem heißen Stein” sind und nicht allen Leistungsbeziehenden helfen können. Deshalb ist und bleibt der Gesetzgeber in der Verantwortung.
Wie viel Stromkosten sind im Hartz IV Regelsatz enthalten?
Derzeit sind gerade einmal 36,42 Euro im Hartz IV Regelsatz für Stromkosten im Monat vorgesehen. Auch im kommenden Jahr steigt dieser Anteil nur marginal auf 40,73 Euro (11,8 Prozent).
Seit Jahren ist der Stromanteil nicht mehr bedarfsdeckend, wie wir auch in letzten Jahren immer und immer wieder kritisiert haben.
Regelsatzerhöhung 2023 gleicht Bedarf nicht aus
Auch mit der geplanten Erhöhung des Stromanteils um 11,8 Prozent im Zuge der Einführung des Bürgergelds sind die tatsächlichen Preissteigerungen nicht im Ansatz ausgeglichen. Viele Haushalte, die Hartz IV oder Sozialhilfe Leistungen beziehen, haben deutlich höhere Kosten und sind deshalb mit hohen Nachzahlungen konfrontiert.
Hinzukommend sind bei einer dezentralen Warmwasserversorgung die Kostenübernahmen gedeckelt. Eine Erhöhung ist aufgrund der Anforderung, einen extra Zähler einzubauen, fast immer ausgeschlossen.
Bundesverfassungsgericht mahnte: Gesetzgeber muss zeitnah reagieren
Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits im Zuge der bevorstehenden Preissteigerungen im Energiesektor im Jahre 2014 geurteilt:
“Ergibt sich eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter, muss der Gesetzgeber zeitnah darauf reagieren. So muss die Entwicklung der Preise für Haushaltsstrom berücksichtigt werden. Ist eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen, darf der Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten.” (BVerfG AZ: 1 BvL 10/12; AZ: 1 BvL 12/12; AZ: 1 BvR 1691/13; Rn 144).
Wenn der Gesetzgeber nicht dafür Sorge trägt, dass der Stromkosten-Anteil in den Regelleistungen ausreichend ist bzw auch keine Abhilfe durch Zuschüsse gewährleistet, dann sind die Sozialgerichte gefordert, wie das Bundesverfassungsgericht weiter ausführte:
„Auf die Gefahr einer Unterdeckung kann der Gesetzgeber durch zusätzliche Ansprüche auf Zuschüsse zur Sicherung des existenznotwendigen Bedarfs reagieren. Fehlt es aufgrund der vorliegend zugrunde gelegten Berechnung des Regelbedarfs an einer Deckung der existenzsichernden Bedarfe, haben die Sozialgerichte Regelungen wie § 24 SGB II über gesondert neben dem Regelbedarf zu erbringende einmalige, als Zuschuss gewährte Leistungen verfassungskonform auszulegen“, (BVerfG 1 BvL 10/12; 1 BvL 12/12; 1 BvR 1691/13; Rn 116).
Nach Ansicht des Sozialrechtsexperten Harald Thomé trifft diese Situation derzeit zu.
“Entweder wird die Haushaltsenergie jetzt im Rahmen der Verhandlungen um das Bürgergeld kurzfristig aus den Regelleistungen rausgenommen, oder die Stromkosten, die sich oberhalb der Beträge, die dafür im Regelsatz vorgesehen sind, sind im Rahmen des Härtefallmehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II bzw. abweichende Regelleistungen nach § 27a Abs. 4 SGB XII zu übernehmen”, schreibt Thomé in seinem aktuellen Rundbrief von Tacheles e.V.
„Sollte der Gesetzgeber nicht ausreichend reagieren, müssen die Gerichte in verfassungskonformer Auslegung reagieren“, stellten die obersten Bundesverfassungsschützer in ihrer Urteilsbegründung fest. Ein Anspruch besteht, wenn es sich um “laufenden, unabweisbaren Bedarfe” handelt. Bei Strom dürfte dies nach Ansicht des Sozialrechtsexperten der Fall sein.
Ab welcher Höhe ist ein unabweisbarer Bedarf?
Das Landessozialgericht Hamburg hatte beispielsweise “keine Zweifel, dass bei einem regelmäßigen monatlichen Aufwand von – mindestens – 20 Euro ein erhebliches Abweichen von dem durchschnittlichen Bedarf besteht” (AZ: L 4 AS 25/20, Rn 58). In einem anders gelagerten Fall hatte das Bundessozialgericht entschieden, dass ein zusätzlicher unabweisbarer Bedarf bereits bei 27,20 Euro pro Monat besteht.
Wenn nun, wie erwartet, die Stromkosten im kommenden Jahr weiterhin stark steigen, wird auch die Erhöhung des Strompreisanteils im Regelsatz um 11,8 Prozent nicht dazu führen, dass Leistungsbeziehende die Stromkosten über den Stromkostenanteil vollständig abdecken können.
Wenn die Stromkosten 20 Euro den Regelsatz-Anteil übersteigen
Im Kontext der gefällten Urteile kann “die Position vertreten werden, dass spätestens dann, wenn die Kosten mehr als 20 EUR im Monat den Betrag übersteigen, der für Haushaltsenergie im Regelsatz vorgesehen ist, dass dann ein Mehrbedarfsanspruch nach § 21 Abs. 6 SGB II in voller Höhe für den Betrag besteht, der den im Regelsatz dafür vorgesehen übersteigt”, sagt Thome´.
Leistungsbeziehenden ist nämlich aufgrund der Preissteigerungen nicht zuzumuten, die höheren Stromkosten durch Einsparungen in anderen Bedarfen auszugleichen. Somit müsste es eine “individuellen Regelsatzerhöhung nach § 27a Abs. 4 SGB XII oder Anpassung der Regelbedarfe entsprechend des für das SGB XII geplanten Einführung einer Härtefallregelung nach § 30 Abs. 9 SGB XII – E” bedürfen, mahnt der Experte.
Jetzt sind die Sozialgerichte gefordert
Nun sind die Sozialgerichte gefordert, mahnt Thomé. Die Gerichte sollten Anträge auf höhere Regelsätze nicht auf formellen Gründen – wie in der Vergangenheit oft passiert – ablehnen, sondern auf dem Gerichtsweg überprüfen. Die Gerichte sollten vielmehr den Arbeitsauftrag des Bundesverfassungsgerichts ernst nehmen.
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