Kündigungsschutz bei Schwerbehinderung: Bei Gleichstellung entscheidet der Zeitpunkt

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Eine langjährige Führungskraft wehrt sich zwar erfolgreich gegen eine ordentliche Kündigung: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat entschieden, dass die Entlassung wegen einer angeblich falschen eidesstattlichen Versicherung unwirksam ist (Urteil vom 31.07.2014, 2 AZR 434/13).

Zugleich stellt das Gericht aber klar, dass die Betroffene trotz Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen am Arbeitsplatz keinen besonderen Kündigungsschutz beanspruchen kann – denn der Antrag erfolgte zu spät.

Hintergrund: Führungskraft nach Krankheit ins Abseits gestellt

Die Klägerin, Jahrgang 1968, arbeitet seit 2005 für die deutsche Niederlassung eines US-amerikanischen Herstellers medizinischer Produkte. Zuletzt ist sie als „Direct Marketing Supervisor“ tätig und führt ein Team von acht Mitarbeitenden.

Nach einer längeren Arbeitsunfähigkeit kehrt sie Mitte Oktober 2011 an ihren Arbeitsplatz zurück – und erlebt dort eine abrupte Veränderung: ihr wird die Teamleitung entzogen, sie verliert ihre Weisungsbefugnis gegenüber den Mitarbeitenden, sie wird in ein Einzelbüro versetzt,und
eine Kollegin wird in Teile ihrer bisherigen Aufgaben eingearbeitet.

Die Klägerin fühlt sich kaltgestellt und zieht vor Gericht: Im Wege einer einstweiligen Verfügung verlangt sie, wieder als „Direct Marketing Supervisor“ eingesetzt zu werden – oder zumindest gleichwertige Aufgaben zu erhalten.

Streitpunkt: „Leeres Büro“ und angeblich falsche eidesstattliche Versicherung

Im Eilverfahren legt die Klägerin eine eidesstattliche Versicherung vor. Darin schildert sie ihre Situation drastisch: Sie sitze in einem „leeren Büro“. Ihr seien „sämtliche Aufgaben und Verantwortung entzogen“ worden. Sie dürfe keinen Kontakt zu Mitarbeitenden und Kolleginnen haben.

Arbeitgeber behauptet, die Angaben sind falsch

Der Arbeitgeber wirft ihr später vor, diese Angaben seien objektiv falsch und bewusst überzogen. Die Klägerin habe damit versucht, durch eine verzerrte Darstellung der betrieblichen Verhältnisse einen Prozesserfolg zu erzwingen.

Ordentliche Kündigung wegen falscher eidesstattlicher Versicherung

Nach einem gerichtlichen Vergleich im Eilverfahren – die Klägerin wird vorübergehend weiter beschäftigt, bleibt aber ohne Weisungsbefugnis – folgt Ende November 2011 die ordentliche Kündigung zum 31. Januar 2012. Begründung: vorsätzlich falsche eidesstattliche Versicherung.

Die Klägerin erhebt Kündigungsschutzklage

Die Betroffene klagt gegen die Kündigung. Das Arbeitsgericht München gibt der Klägerin Recht – die Kündigung ist unwirksam. Das Landesarbeitsgericht München hebt jedoch in der Berufung das Urteil auf und weist die Klage ab – nach Auffassung der dortigen Richter enthält die eidesstattliche Versicherung falsche Tatsachenbehauptungen, die die Kündigung rechtfertigen.

Schließlich geht die Betroffene vor das Bundesarbeitsgericht und hat Erfolg. Das BAG erklärt die Kündigung für sozial ungerechtfertigt, denn eine Abmahnung hätte gereicht, so erklärten die Richter der dritten Instanz.

Wann kann eine falsche eidesstattliche Versicherung zur Kündigung führen?

Grundsätzlich gilt: Gibt ein Arbeitnehmer in einem Rechtsstreit mit dem Arbeitgeber vorsätzlich eine falsche eidesstattliche Versicherung ab, kann das eine ordentliche – mitunter sogar außerordentliche – Kündigung rechtfertigen. Das wäre dann eine schwere Verletzung der arbeitsvertraglichen Nebenpflicht, auf die Interessen des Arbeitgebers Rücksicht zu nehmen (Paragraf 241 Absatz 2 Bürgerliches Gesetzbuch).

Aber: Im konkreten Fall sieht das BAG diese Schwelle nicht als überschritten. Das Gericht nimmt die eidesstattliche Versicherung Satz für Satz auseinander und bewertet, ob es sich um Tatsachenbehauptungen (überprüfbar, objektiv richtig oder falsch) oder um Werturteile (subjektive Einschätzungen, Bewertungen, Eindrücke) handelt.

Aussagen sind subjektive Bewertungen

Die Formulierung, sie habe eine Kollegin in „ihre bisherigen Tätigkeiten“ einarbeiten müssen, ist nach Auffassung des BAG nicht falsch, auch wenn es nur Teile ihrer Aufgaben betraf. Die Aussage, ihr seien „sämtliche Aufgaben entzogen worden“, könne zumindest als subjektive Bewertung verstanden werden, weil ihr prägende Leitungsaufgaben entzogen wurden und ihr konkrete neue Aufgaben weitgehend fehlten.

Die Formulierung „leeres Büro“ – mit Anführungszeichen – sei erkennbar wertend gemeint: eher „menschen- und aufgabenleeres Büro“ als physisch leer. Die Aussage, sie „dürfe“ keinen Kontakt zu Kolleginnen haben, könne als Beschreibung eines faktischen Zustands verstanden werden (Isolation), nicht zwingend als Behauptung eines ausdrücklichen Verbots.

Keine Nachweis für bewusste Falschaussagen

Das BAG sieht deshalb keinen hinreichenden Nachweis, dass die Klägerin bewusst und gezielt die Unwahrheit gesagt hat. Selbst wenn einzelne Formulierungen überzogen oder ungenau seien, kann das Gericht der Klägerin keinen Vorsatz nachweisen. Die Richter halten es für plausibel, dass sie die Lage emotional belastet und aus ihrer subjektiven Sicht schildert – insbesondere nach dem Entzug der Führungsverantwortung.

Die Richter betonen: Allenfalls kann man der Klägerin vorwerfen, ihre Erklärung „nicht vorsichtig genug formuliert“ und leichtfertig übertrieben zu haben. Dafür ist eine Kündigung unverhältnismäßig. Eine Abmahnung hätte als Reaktion ausgereicht. Damit ist die Voraussetzung für eine verhaltensbedingte Kündigung nach Paragraf 1 Absatz 2 Kündigungsschutzgesetz nicht erfüllt.

Kein Sonderkündigungsschutz: Gleichstellung kommt zu spät

Die Betroffene kann sich jedoch nach Auffassung des Gerichts nicht auf den Sonderkündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen und mit diesen Gleichgestellte berufen.

Die Klägerin ist zwar behindert, aber nicht schwerbehindert im Sinne von Paragraf 2 Absatz 2 Sozialgesetzbuch IX. Das Versorgungsamt stellt einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 fest.

Erst nach der Kündigung beantragt sie jedoch bei der Bundesagentur für Arbeit die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen (Paragraf 2 Absatz 3, Paragraf 68 SGB IX). Die Behörde sichert ihr eine Gleichstellung nur für den Fall zu, dass ein Arbeitgeber ihre Einstellung von einer Schwerbehinderung abhängig macht – und das auch erst auf einen Zeitpunkt nach der Kündigung rückwirkend.

Der entscheidende Punkt für den Sonderkündigungsschutz ist: Die Gleichstellung wird rechtlich erst mit Eingang des Antrags wirksam. Eine rückwirkende Wirkung vor diesen Tag ist nicht vorgesehen.

Ohne Sonderkündigungsschutz muss das Integrationsamt nicht zustimmen

Zum Zeitpunkt der Kündigung genießt die Klägerin keinen Sonderkündigungsschutz nach Paragraf 85 SGB IX. Eine Zustimmung des Integrationsamts war daher nicht erforderlich.

Bedeutung für die Praxis: Wichtige Richtlinien beim Kündigungsschutz

Das Urteil klärt drei wichtige Fragen:

1. Strenge Maßstäbe bei Kündigungen wegen Prozessverhalten
Eine Kündigung wegen angeblich falscher eidesstattlicher Versicherung setzt klaren Vorsatz voraus. Überspitzte oder emotional gefärbte Schilderungen reichen in der Regel nicht aus, solange sie auf einer nachvollziehbaren subjektiven Wahrnehmung beruhen.

2. Vorrang der Abmahnung bei steuerbarem Verhalten
Wenn ein Arbeitnehmer sein Verhalten steuern kann, muss der Arbeitgeber zunächst regelmäßig abmahnen, bevor er kündigt. Das gilt auch für pflichtwidriges Verhalten im Prozess, sofern es nicht völlig aus dem Rahmen fällt.

3. Gleichstellung rechtzeitig beantragen
Wer einen besonderen Kündigungsschutz als Gleichgestellter will, muss rechtzeitig handeln. Ein Antrag, der erst nach Zugang der Kündigung gestellt wird, schützt nicht rückwirkend vor dieser Kündigung.

FAQ: Die fünf wichtigsten Fragen zur Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen

1. Was bedeutet „Gleichstellung“ mit einem schwerbehinderten Menschen?
Gleichstellung bedeutet, dass ein behinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von mindestens 30, aber weniger als 50 rechtlich in bestimmten Bereichen wie ein schwerbehinderter Mensch behandelt wird – insbesondere beim Kündigungsschutz und in der Arbeitswelt.
Zuständig ist die Bundesagentur für Arbeit (Paragraf 2 Absatz 3, Paragraf 68 SGB IX).

2. Ab wann besteht Sonderkündigungsschutz bei Gleichstellung?
Der besondere Kündigungsschutz greift erst, wenn: ein Antrag auf Gleichstellung bei der Bundesagentur für Arbeit gestellt wurde und
die Gleichstellung wirksam ist.

Rechtlich wird die Gleichstellung frühestens mit dem Tag des Antragseingangs wirksam.
Eine später beantragte Gleichstellung schützt nicht rückwirkend vor einer bereits ausgesprochenen Kündigung.

3. Reicht der Antrag auf Anerkennung als schwerbehinderter Mensch für die Gleichstellung aus?
Nein. Der Antrag auf Anerkennung als schwerbehinderter Mensch beim Versorgungsamt ist etwas anderes als der Antrag auf Gleichstellung bei der Bundesagentur für Arbeit.

Der Antrag auf Schwerbehinderung gilt nicht automatisch als Antrag auf Gleichstellung.. Wer auf Nummer sicher gehen will, sollte beide Anträge bewusst getrennt stellen – oder den Gleichstellungsantrag ausdrücklich „vorsorglich“ bei der Bundesagentur für Arbeit einreichen.

4. Wie stelle ich einen Antrag auf Gleichstellung – und wann ist der beste Zeitpunkt?
Der Antrag wird bei der Bundesagentur für Arbeit gestellt, meist formlos oder über deren Formulare (online oder vor Ort). Voraussetzung ist in der Regel: ein Grad der Behinderung von mindestens 30,
und die Gefahr, den Arbeitsplatz wegen der Behinderung nicht behalten zu können oder keinen geeigneten Arbeitsplatz zu finden.

Der beste Zeitpunkt ist frühzeitig, sobald absehbar ist, dass: der Arbeitsplatz gefährdet ist oder
die Behinderung die Vermittlung und Beschäftigung deutlich erschwert.Wer schon im laufenden Konflikt mit dem Arbeitgeber steht, sollte den Antrag möglichst vor einer Kündigung stellen.

5. Was sollten Beschäftigte mit Behinderung arbeitsrechtlich beachten?
Einige praktische Tipps: Frühzeitig informieren: sich bei Schwerbehindertenvertretung, Betriebsrat oder Anwalt über Rechte nach SGB IX beraten lassen. Dokumentieren: gesundheitliche Einschränkungen, Tätigkeiten, Umsetzungen und Probleme am Arbeitsplatz schriftlich festhalten.
Anträge rechtzeitig stellen: auf Schwerbehinderung beim Versorgungsamt und – bei GdB 30–40 – auf Gleichstellung bei der Bundesagentur für Arbeit.

Konflikte sachlich führen: auch in gerichtlichen Verfahren sollten Schilderungen so genau und nachvollziehbar wie möglich sein – Übertreibungen können sonst gegen einen verwendet werden.
Unterstützung suchen: Gewerkschaften, Sozialverbände, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte für Arbeitsrecht sowie Integrationsfachdienste können helfen.

Fazit: Bei Gleichstellung kommt es maßgeblich auf den Zeitpunkt an

Das Bundesarbeitsgericht stoppt eine vorschnelle Kündigung, die auf einer als „falsch“ bewerteten eidesstattlichen Versicherung beruhte. Es hebt hervor: Nicht jede zugespitzte oder subjektiv gefärbte Schilderung im Prozess rechtfertigt eine Kündigung. Ohne nachweisbaren Vorsatz und ohne vorherige Abmahnung ist eine verhaltensbedingte Kündigung meist nicht haltbar.

Beim Sonderkündigungsschutz kommt es maßgeblich auf den Zeitpunkt und Inhalt der Anträge nach dem SGB IX an. Für Beschäftigte mit Behinderung oder einem Grad der Behinderung von 30 bis 40 bedeutet das: Rechte kennen, Anträge rechtzeitig stellen – und in Konflikten klar, aber nicht leichtfertig übertrieben argumentieren.