Bürgergeld-Regelsatz-Klagen gegen Nullrunde: Jetzt 6 Verfahren anhängig beim BSG

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Die Brisanz ist hoch: Nach der Nullrunde 2025 steht offenkundig erneut die Frage im Raum, ob das Bürgergeld noch das verfassungsrechtlich garantierte menschenwürdige Existenzminimum sichert.

Es mehren sich höchstrichterliche Verfahren: Noch nie seit Hartz-IV-Zeiten waren so viele Klagen zur Höhe der Regelsätze beim Bundessozialgericht (BSG) anhängig.

Was die Richter klären sollen

Im Kern geht es um die Frage, ob die nach § 20 SGB II festgesetzten Regelbedarfe in den Jahren 2022 bis 2024 verfassungskonform waren. Beim 7. Senat des BSG sind hierzu unter anderem zwei Revisionsverfahren anhängig, die die Regelsatzhöhe 2022 betreffen (B 7 AS 30/24 R) sowie spezifisch die Monate September und Oktober 2022 (B 7 AS 20/24 R). Zusätzlich hat der 4. Senat ein weiteres Verfahren zur Regelsatzhöhe 2022 (B 4 AS 5/25 R) auf dem Tisch.

Diese Verfahren richten sich darauf, ob die damalige Fortschreibung und Herleitung der Regelsätze die Lebenswirklichkeit – insbesondere in der Energie- und Lebensmittelpreiskrise – ausreichend abgebildet hat.

Auch im Sozialhilferecht (SGB XII) prüft der 8. Senat, ob die Regelsätze verfassungsgemäß waren. Dort liegen Verfahren vor, die die erste und zweite Jahreshälfte 2022 betreffen (B 8 SO 4/24 R und B 8 SO 5/24 R).

Der Sozialrechtsexperte Detlef Brock weiß zudem von einem weiteren Verfahren, dass erst gestern eingereicht wurde.  Das Verfahren bezieht sich über die zweite Hälfte 2022 hinaus auch auf 2023 und 2024.

Rechtsrahmen: Wie Regelsätze entstehen – und warum das wichtig ist

Die Regelsatzhöhe ist nicht politisches Freihandeln, sondern rechtlich gebunden. Nach der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2010 müssen Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums transparent, nachvollziehbar und realitätsgerecht bemessen werden.

Seither stützt sich der Gesetzgeber auf das Regelbedarfsermittlungsgesetz und auf einen gesetzlich fixierten Fortschreibungsmechanismus.

Dieser Mischindex gewichtet die Preisentwicklung regelbedarfsrelevanter Güter zu 70 Prozent und die Nettolohnentwicklung zu 30 Prozent. Seit 2023 erfolgt die Fortschreibung in einem zweistufigen Verfahren, das die aktuelle Inflation stärker einbezieht.

Genau an diesen Stellschrauben entzünden sich derzeit die verfassungsrechtlichen Zweifel.

Die Nullrunde 2025 – und die Aussicht auf eine weitere Pause 2026

Für 2025 hat die Bundesregierung die Regelsätze nicht erhöht. Hintergrund war, dass die gesetzliche Mischindex-Fortschreibung rechnerisch sogar einen niedrigeren Betrag ergeben hätte als 2024; eine Schutzklausel untersagt nominelle Kürzungen, weshalb die Beträge auf Vorjahresniveau eingefroren blieben.

Von Seiten der Bundesregierung wurde diese Stabilisierung als „Nullrunde“ kommuniziert. Inzwischen zeichnet sich ab, dass auch 2026 keine Erhöhung erfolgen könnte, sofern die Inflation niedrig bleibt. Sozialverbände warnen vor den sozialen Folgen einer erneuten Pause.

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Die Teuerung 2022 und 2023 hat die Diskussion verschärft. Im Jahresdurchschnitt stiegen die Verbraucherpreise 2022 um rund sieben bis acht Prozent, 2023 um knapp sechs Prozent; 2024 hat sich der Preisdruck abgeschwächt, lag aber im Schnitt noch bei gut zwei Prozent. Für 2025 bewegt sich die Teuerung bislang in einer Größenordnung knapp über zwei Prozent.

Für Haushalte im Leistungsbezug, deren Budgetanteile für Lebensmittel und Energie überdurchschnittlich hoch sind, fällt der reale Druck oft stärker aus als es die Gesamtinflation nahelegt. Hier setzt die Kritik an der Mischindex-Logik an.

Streitpunkt Methodik: Reicht der Mischindex aus?

Die Klägerseite und Sozialverbände argumentieren, der 70/30-Mischindex bilde Preisrealitäten im unteren Einkommenssegment nicht ausreichend ab – insbesondere dann nicht, wenn Teuerungsschübe sehr kurzfristig auftreten und die Fortschreibung zeitlich hinterherläuft.

Was konkret vor Gericht verhandelt wird – und was auf dem Spiel steht

Vor dem 7. Senat (Bürgergeld/SGB II) und dem 8. Senat (Sozialhilfe/SGB XII) geht es um die Frage, ob die maßgeblichen Regelsätze in 2022 – vielfach in der heißen Phase der Energiepreiskrise – hinreichend tragfähig ermittelt wurden. Die Verfahren B 7 AS 30/24 R und B 7 AS 20/24 R benennen die Verfassungsmäßigkeit explizit; auf SGB-XII-Seite sind die Halbjahre 2022 in B 8 SO 4/24 R und B 8 SO 5/24 R adressiert.

Parallel kursieren weitere Klageinitiativen, etwa von Klägern, die für 2022–2024 höhere Regelsätze – teils in der Größenordnung von 725 Euro für Alleinstehende – begehren; diese Verfahren illustrieren die Breite des Konflikts, auch wenn sie nicht notwendigerweise den Rechtsfragenkatalog der BSG-Senate vorwegnehmen.

Mögliche Folgen eines Richterspruchs

Kommt das BSG zu dem Ergebnis, dass die Regelsätze zwar unter Druck standen, aber verfassungsgemäß ermittelt wurden, dürfte der Gesetzgeber vorerst bestätigt sein. Anders läge der Fall, wenn die Senate wesentliche methodische Defizite sehen.

Dann wären mehrere Pfade denkbar: Entweder eine verfassungskonforme Auslegung innerhalb des bestehenden Rahmens oder – sofern das einfache Recht an verfassungsrechtliche Grenzen stößt – eine Vorlage nach Art. 100 GG an das Bundesverfassungsgericht.

In letzterem Fall müsste der Gesetzgeber gegebenenfalls nachbessern, etwa durch eine veränderte Gewichtung des Mischindex, kürzere Aktualisierungszyklen oder zielgenaue Korrekturen für besonders preissensible Verbrauchsgruppen.

Wichtig: Rückwirkende Nachzahlungen wären in einem solchen Szenario nicht ausgeschlossen, sie hingen jedoch von Reichweite und Tenor eines etwaigen Urteils ab.

Stimmen aus Praxis und Verbänden

Die Verbände drängen auf zügige Klarheit. Der VdK warnt vor einer sozialen Erosion durch reale Kaufkraftverluste und die politische Vergiftung der Debatte, wenn existenzsichernde Leistungen ausgehöhlt würden. In der Beratungspraxis heißt es, es brauche „starke Nerven“ und qualifizierte anwaltliche Begleitung, um die komplexe Rechtslage – von Überprüfungsanträgen bis zu Revisionsverfahren – durchzuhalten.

Der Sozialverband VdK übt scharfe Kritik an der angekündigten weiteren „Nullrunde“ beim Bürgergeld im kommenden Jahr. VdK-Präsidentin Verena Bentele spricht von einer „versteckten Kürzung“ und mahnt, die Regelsätze müssten reale Preissteigerungen tatsächlich abfedern.

Dass der Streit längst die Fläche erreicht hat, zeigen zahlreiche Entscheidungen der Landessozialgerichte und die kontinuierlichen Rechtsprechungsübersichten von “Gegen-Hartz.de”.

Anmerkung vom Bürgergeld-Experten Detlef Brock:

“Es braucht starke Nerven, einen langen Atem und vor allem einen richtigen, guten Rechtsanwalt, um diese Frage beantworten zu können.”