In den letzten Tagen berichteten viele Medien, das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein‑Westfalen habe entschieden, dass die Regelleistungen im Bürgergeld verfassungskonform seien. Auch wir berichteten. Doch hat das Gericht tatsächlich in seinem Beschluss so entschieden? Wie geht es nun weiter mit den Klagen, die vor allem die unzureichende Höhe der Regelsätze bemängeln?
Inhaltsverzeichnis
Nur das Bundesverfassungsgericht kann als letzte Instanz entscheiden
Die letzte Instanz für jede Frage der Verfassungsgemäßheit ist das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Allgemeine Gerichte – auch die Sozialgerichtsbarkeit – dürfen zwar prüfen, ob die einfachen Gesetze, die sie anwenden, mit dem Grundgesetz vereinbar erscheinen.
Gelangen sie zu ernsten Zweifeln, müssen sie das Verfahren aussetzen und Karlsruhe im Wege der konkreten Normenkontrolle anrufen (§ 100 Abs. 1 GG). Ein eigenständiges „Verwerfungsmonopol“ besitzen sie nicht.
Wenn also der 2. Senat des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein‑Westfalen am 2. April 2025 den Regelbedarf 2023/2024 als „verfassungsgemäß“ bezeichnete, tat er das nur in einer ersten, summarischen Einschätzung, ohne die Letztentscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts vorwegzunehmen.
Was genau hat das LSG NRW am 2. April 2025 beschlossen?
Gegenstand der drei parallel geführten Beschwerdeverfahren war ausschließlich die Frage, ob der alleinstehenden Klägerin für ihre Klagen gegen Bewilligungsbescheide Prozesskostenhilfe (PKH) zusteht.
Das Sozialgericht Dortmund hatte PKH verweigert, weil es den Klagen keine hinreichende Erfolgsaussicht zubilligte.
Der 2. Senat, besetzt mit drei Berufsrichter ohne die sonst üblichen ehrenamtlichen Richter, bestätigte diese Einschätzung: Die Rechtsverfolgung biete „keine hinreichende Aussicht auf Erfolg“, weil die gesetzlichen Regelsätze “nach summarischer Prüfung nicht evident unzureichend seien”. Damit blieb es bei der PKH‑Versagung; über die materielle Klage hat der Senat gerade nicht entschieden.
Aber: Der PKH‑Beschwerdesenat entscheidet ohne Beweisaufnahme
Im PKH‑Verfahren vergleicht das Gericht nur in groben Zügen, ob eine Klage offensichtlich Aussicht auf Erfolg hat (§ 114 ZPO i. V. m. § 73a SGG). Prüfmaßstab ist deshalb “eine summarische, nicht erschöpfende Betrachtun”g, wie es im Juristendeutsch heißt.
Weder werden Sachverständigengutachten eingeholt noch umfangreiche Beweise erhoben. Das erklärt, weshalb der Senat z.B. keine eigenen Inflationsgutachten anforderte und keine mündliche Verhandlung ansetzte.
Dass diese Reduktion verfahrensrechtlich zulässig ist, betonte Pressesprecher Dr. Uwe Hansmann in seiner Antwort auf die Anfrage von Ulrich Wockelmann, einem Erwerbslosenberater aus Iserlohn. Der PKH‑Beschluss kann nämlich später korrigiert werden, falls die Hauptsache neue Erkenntnisse bringt.
Ist damit endgültig geklärt, dass die Regelsätze 2023/2024 ausreichend sind?
Nein. Erstens steht das Hauptsacheverfahren beim Sozialgericht Dortmund noch aus; dort kann die Klägerin – mit oder ohne anwaltliche Unterstützung – ihre Einwände erneut vortragen.
Zweitens kann jedes Sozialgericht, das ernsthafte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des neuen zweistufigen Fortschreibungsmechanismus hat, Karlsruhe anrufen. Karlsruhe selbst hat die Regelsätze der Jahre 2021 und 2022 wegen pandemiebedingter Einmalzahlungen vor kurzem für überprüfungswürdig gehalten, aber die betreffende Vorlage für unzulässig erklärt.
Offen ist deshalb weiterhin, ob das zweistufige Verfahren, das seit 1. Januar 2023 gilt, künftigen Inflationsschüben wirklich standhält.
Zweistufige Fortschreibungsverfahren verfassungsgemäß
Mit dem Bürgergeldgesetz hat der Gesetzgeber den bisherigen Anpassungsmechanismus reformiert: Auf eine Basisfortschreibung (50 % Netto‑Lohn‑, 50 % Preisentwicklung) folgt halbjährlich eine „ergänzende“ Preisanpassung.
Der Senat des LSG hält diesen Mechanismus für verfassungskonform, weil er – anders als früher – außergewöhnliche Preissteigerungen zeitnäher ausgleiche. Kritikerinnen, darunter Wohlfahrtsverbände und Experten wie Dr. Utz Anhalt, bezweifeln jedoch, dass der methodische Zuschnitt wirklich die Preisrealität in preissensiblen Warenkörben Abhängiger abbildet.
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Hat die Klägerin im PKH‑Verfahren anwaltliche Hilfe gehabt – und war ihre Begründung schwach?
Laut Dr. Hansmann war die Klägerin bei Antragstellung wie auch im Beschwerdeverfahren anwaltlich vertreten. Dass der PKH‑Antrag trotzdem als kaum aussichtsreich eingestuft wurde, liegt weniger an fehlender anwaltlicher Unterstützung als an der hohen Hürde des § 114 ZPO:
Ein voll entwickelter Rechtsstreit muss bereits im Ansatz so plausibel erscheinen, dass der Richter eine mindestens 50‑prozentige Erfolgschance sieht.
Welche Argumente der Anwalt vorgebracht hat, ist aus den veröffentlichten Beschlüssen nicht ersichtlich. Dass der Senat sie für unzureichend hielt, mindert jedoch nicht zwingend deren Substanz im Hauptsacheverfahren.
Warum hält das LSG die Bundesgerichtsverfahren für nicht einschlägig?
Die Klägerin verwies auf zwei Revisionsverfahren beim Bundessozialgericht (BSG), die Vorgänge aus der Zeit vor dem Bürgergeld betrafen. Der LSG‑Senat sah darin keine Relevanz, weil diese Verfahren noch die alte Fortschreibungslogik betrafen.
Ob diese Trennung überzeugend ist, wird sich zeigen, sobald das BSG oder – in letzter Instanz – das Bundesverfassungsgericht erstmals eine Entscheidung zu den Regelsätzen ab 2023 trifft.
Welche Optionen haben Betroffene, wenn PKH verweigert wird?
Ist die Beschwerde gegen die PKH‑Versagung erfolglos, bleibt nur der Weg, das Klageverfahren als Selbstzahler fortzuführen. Alternativ kann man versuchen, neue Fakten vorzubringen und einen erneuten PKH‑Antrag zu stellen, etwa wenn sich die wirtschaftlichen Verhältnisse weiter verschlechtern oder neue verfassungsgerichtliche Hinweise ergehen.
Das ändert also nichts daran, dass der Streit über die Höhe des Existenzminimums bzw. des Bürgergeldes bis zu einer höchstrichterlichen Klärung offen bleibt.
Was bedeutet das alles?
Die schnelle Medienverbreitung des Pressetextes „Regelbedarf 2023/2024 verfassungsgemäß“ hat den Eindruck erweckt, Karlsruhe habe bereits grünes Licht gegeben. Tatsächlich liegt nur die summarische Prüfung eines PKH‑Senats vor.
Fraglich bleibt, ob der zweistufige Index bei anhaltender Teuerung das Existenzminimum deckt.
Die Bundesregierung hatte für 2025 keine Anhebung der Alleinstehenden‑Leistung von 563 € an, weil die ergänzende Preisfortschreibung rechnerisch sogar eine Absenkung ergeben hätte – der sogenannte Besitzschutz verhinderte das.
Die Frage, ob das Existenzminimum künftig verlässlich gesichert ist, bleibt deshalb offen. Erst eine verfassungsgerichtliche Leitentscheidung wird klären, ob der Spielraum des Gesetzgebers bei Sozialleistungen wirklich so weit ist, wie der 2. Senat des LSG NRW in seinem PKH‑Beschluss annimmt.