Seit jeher gilt im deutschen Verwaltungs- und Sozialrecht der Grundsatz, dass die Verwaltung die objektive Beweislast trägt, wenn sie einen begünstigenden Bescheid – etwa über Bürgergeld – wieder einstampfen möchte.
Genau das schreibt § 45 Sozialgesetzbuch X fest, der für rechtswidrige, aber zunächst vorteilhafte Verwaltungsakte eine Rücknahme nur erlaubt, wenn die Voraussetzungen im Einzelnen nachgewiesen werden können.
Was machte den Fall so ungewöhnlich?
Vor dem Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hatte ein junger Mann erklärt, er habe seinerzeit 14 000 Euro in bar an seinen Vater weitergereicht, um ein Familien-Darlehen zu tilgen.
Damit, so sein Vortrag, stehe ihm das Geld nicht mehr zur Verfügung; er bleibe hilfebedürftig. Das Jobcenter zweifelte jedoch, wertete den Betrag als verfügbares Einkommen und forderte die bereits gezahlten Leistungen zurück.
Wie begründete das Gericht die Umkehr der Beweislast?
Die Stuttgarter Richter hielten sich nicht lange mit der üblichen Beweisregel auf. Sie sahen eine „besondere Nähe des Beteiligten zum Beweisgegenstand“: Übergabe und Verbleib des Geldes lägen allein im familiären Innenbereich des Klägers; zugleich habe dieser die Sachverhaltsaufklärung durch vage, teils widersprüchliche Angaben selbst erschwert.
In solchen Konstellationen – so das LSG – darf die objektive Last, Tatsachen zu belegen, auf den Leistungsbezieher verlagert werden.
Welche Leitplanken hat das Bundessozialgericht gesetzt?
Schon 2016 entschied das Bundessozialgericht (BSG), dass eine Beweislastumkehr dann zulässig ist, „wenn in der persönlichen Sphäre eines Beteiligten wurzelnde Vorgänge nicht aufklärbar sind und er selbst deren Aufklärung verhindert“. Damit schuf das höchste Sozialgericht den dogmatischen Unterbau, auf den sich das LSG nun beruft (Az. B 4 AS 41/15 R).
§ 45 SGB X dennoch wichtig
Der Paragraf verlangt, dass ein begünstigender Bescheid nur zurückgenommen werden darf, wenn sein Empfänger bei Erlass entweder vorsätzlich oder grob fahrlässig falsche Angaben machte oder die Rücknahme „schutzwürdigem Vertrauen“ nicht widerspricht.
Das LSG verneinte jegliches Vertrauen: Wer über existenzrelevante Summen schweigt oder sie nicht plausibel belegt, handle grob fahrlässig.
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Welche Folgen hat das Urteil für Bürgergeld-Empfängerinnen und -Empfänger?
Die Entscheidung sendet ein schlichtes, aber scharfes Signal: Wer hohe Bargeldbewegungen, Schenkungen oder kreditähnliche Zahlungen innerhalb der Familie nicht transparent dokumentiert, riskiert, dass Jobcenter und Gerichte das Geld als verfügbares Vermögen einstufen.
In der Praxis heißt das, Kontoauszüge, schriftliche Darlehens- oder Schenkungsverträge sowie Quittungen aufzubewahren, damit die eigene Darstellung nicht an mangelnder Beweisbarkeit scheitert.
Dr. Utz Anhalt: Beweislast vom Gericht umgekehrt
Droht jetzt jedem Leistungsbezieher die umgekehrte Beweislast?
Nein. Die Rechtsprechung betont, dass es sich um eine eng begrenzte Ausnahme handelt. Sie greift nur, wenn der maßgebliche Vorgang vollständig im Herrschafts- oder Einflussbereich der betroffenen Person liegt und nur sie ihn aufhellen kann. Sobald Dritte, Dokumente oder nachvollziehbare Indizien existieren, bleibt die Verwaltung weiterhin beweisbelastet.
Warum bleibt der Beschluss trotzdem umstritten?
Sozial- und Armutsforschende kritisieren, dass gerade Menschen mit geringen Ressourcen häufig keine formaljuristischen Verträge schließen und Bargeldgeschäfte innerhalb der Familie alltäglich sind. Eine strikte Beweislastumkehr könne damit faktisch zu einer Beweisnot führen – ein Risiko, das der Sozialstaat eigentlich abfedern soll.
Was ist Betroffenen jetzt zu raten?
Wer Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II (Bürgergeld) bezieht und Vermögen veräußert, verschenkt oder innerhalb der Familie tilgt, sollte den Vorgang noch am selben Tag schriftlich festhalten, Zeugen benennen und Kopien relevanter Geldbewegungen sichern.
So lässt sich spätere Rechtsunsicherheit vermeiden – und die Frage, wer was beweisen muss, stellt sich gar nicht erst.
Damit weist der Stuttgarter Richterspruch den Weg in eine Phase genauerer Selbst-Dokumentation für Leistungsbeziehende – und setzt zugleich dem Jobcenter enge Grenzen: Erst wenn der Sachverhalt objektiv nur noch in der Sphäre des Betroffenen aufklärbar ist und dieser nicht mitwirkt, darf die Beweislast umkehren. Die Grundregel des Rechtsstaats bleibt also bestehen, wird aber punktuell geschärft.