Bürgergeld: Kind hat Anspruch auf eigenes Zimmer

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Ein Kind im nahezu schulfähigen Alter benötigt ein eigenes Zimmer. Das SG Berlin urteilte am 19.10.2023 – S 175 AS 7097/21 – wie folgt:
Alleinerziehende Mutter mit nahezu schulfähigen Kind und zwei kleineren Kindern unterschiedlichen Geschlechts haben Anspruch auf eine 4- Raum- Wohnung .

Die Mutter kann nicht dauerhaft ohne eigenen Rückzugsort sein und ihr muss daher ein eigenes Zimmer zugestanden werden. Das Kind im nahezu schulfähigen Alter bedarf eines eigenen Raumes.

Was war passiert?

Die alleinerziehende und schwangere Mutter beantragte beim Jobcenter die Zusicherung für die Übernahme der Kosten für eine Vier-Zimmer-Wohnung im selben Wohnhaus mit einer Fläche von 93,51 m². Das Jobcenter lehnte die Zusicherung ab.

Die Mutter ging in Widerspruch gegen den Bürgergeld-Bescheid, auch dieser wurde vom Jobcenter abgelehnt. Die Leistungsempfängerin mietete ohne Zusicherung des Jobcenters die Vier-Zimmer-Wohnung an.

Bei weiteren Bescheiden des Jobcenters wurden allerdings nicht die Tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung berücksichtigt, nur die angemessenen KdU.

Verzweifelt wandte sich die alleinerziehende Mutter an RA Matthias Göbe, Berlin. Dieser reichte Klage beim SG Berlin ein, mit der Begründung, dass die tatsächlichen Kosten der Unterkunft zu übernehmen sein, denn der Umzug war erforderlich. Des weiteren hätte seine Mandantin Anspruch auf Berücksichtigung der tatsächlichen Unterkunftskosten.

Dies folge aus der Regelung des § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II, der für die Zeit seiner Geltung eine unwiderlegbare Fiktion der Angemessenheit der tatsächlichen Kosten für einen Zeitraum von sechs Monaten begründe.

Das Jobcenter war der Auffassung, dass der Umzug nicht erforderlich und die Kosten der neuen Wohnung unangemessen seien. Die 175. Kammer des Sozialgerichts Berlin entschied wie folgt:

Ob zugunsten der Kläger im vorliegenden Verfahren die Angemessenheitsfiktion des § 67 Abs. 3 SGB II a. F. greift, musste die Kammer nicht entscheiden. Nach Auffassung der Kammer ist die genannte Miethöhe angemessen im Sinne der Norm.

Soweit das Jobcenter aber darauf abstellt, dass die Miete unangemessen hoch sei und hierzu auf die Vorschriften der AV-Wohnen zurückgreift, geht die Kammer davon aus, dass die AV-Wohnen kein schlüssiges Konzept zur Ermittlung angemessener Unterkunftskosten darstellt.

So dass entsprechend der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf die Tabellenwerte des Wohngeldgesetzes zzgl. eines 10%igen Sicherheitszuschlags zurückzugreifen ist.

Der unbestimmte Rechtsbegriff der Angemessenheit ist gerichtlich uneingeschränkt zu überprüfen

Die vom Jobcenter zur Ermittlung der Angemessenheitswerte herangezogene AV-Wohnen stellt zur Überzeugung der Kammer kein schlüssiges Konzept dar.

Zur Festlegung der Angemessenheitswerte hat das Land Berlin weder das Wohnungsangebot noch die Nachfrage hinreichend konkret bestimmt.

Es kann mithin nicht festgestellt werden, ob vorliegend Wohnraum zu den als angemessen erachteten Kosten tatsächlich zur Verfügung steht und in hinreichender Zahl auf dem Markt allgemein zugänglich angeboten wird (zu diesem Aspekt für den Zeitraum 2015/2016 zuletzt etwa LSG Berlin-Brandenburg v. 7.4.2022 – L 10 AS 2286/18 – ).

Die zur Ermittlung der Angemessenheitswerte herangezogene AV-Wohnen stellt kein schlüssiges Konzept dar

Die Kammer sieht das vom Jobcenter angewandte Konzept – auch unter Berücksichtigung der in einer Vielzahl weiterer Verfahren eingereichten und damit gerichtsbekannten Unterlagen der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales – als nicht schlüssig an.

Diese gerichtsbekannten Unterlagen sind nicht hinreichend, um das nicht schlüssige Konzept der AV- Wohnen nachzubessern (so auch SG Berlin v. 21.1.2022 – S 37 AS 9515/19 – , für den Zeitraum 2015/2016 zuletzt auch LSG Berlin-Brandenburg v. 7.4.2022 – L 10 AS 2286/18 – ).

Im vorliegenden Fall folgt daraus für einen Vier-Personen-Haushalt im Jahr 2021 ein maximaler Angemessenheitswert der Bruttokaltmiete von 883,30 EUR und im Jahr 2022 907,50 EUR. Auch die Heizkosten i.H.v. 80,00 EUR bzw. 91,00 EUR sind mit Blick auf die Größe des
Gebäudes (> 1000 m²) und die Art der Heizung (Gasetagenheizung) im Rahmen der Angemessenheitswerte.

Dem Anspruch der Kläger auf Übernahme der angemessenen Kosten der Unterkunft steht nicht die Regelung des § 22 Absatz ein Satz 2 SGB II a.F. entgegen, wonach im Falle eines nicht erforderlichen Umzugs nur die bisherigen Kosten der Unterkunft zu gewähren sind.

Nach Auffassung des Gerichts war der Umzug der Mutter mit ihren Kids im Sommer 2021 erforderlich, weswegen die vom Jobcenter in den angefochtenen Bescheiden vorgenommene Deckelung auf die bisherigen Kosten der Unterkunft rechtswidrig ist.

Nachdem sowohl der Gesetzestext als auch die Gesetzesbegründung zu der Frage schweigen, wann ein Umzug erforderlich bzw. nicht erforderlich ist, soll unter dem Kriterium nach allgemeiner Auffassung zu verstehen sein, dass ein plausibler, nachvollziehbarer und
verständlicher Anlass vorliegt, von dem sich ein Nicht-Hilfeempfängern hätte leiten lassen.

Der Umzug muss auf gewichtige, in der bisherigen Unterkunft liegenden oder persönlichen Gründen beruhen. Dabei sei eine Relation zu den entstehenden Mehrkosten herzustellen.

Was war für das Gericht entscheidend?

Aus Sicht der Kammer war im Falle der alleinerziehenden Mutter entscheidend zu berücksichtigen, dass es sich um eine Bedarfsgemeinschaft bestehend aus einer allein erziehenden Mutter mit einem Kind im nahezu schulfähigen Alter und zwei kleineren Kindern unterschiedlichen Geschlechts handelt.

Es erschien der Kammer nicht nur nachvollziehbar, dass das Kind im nahezu schulfähigen Alter einen eigenen Raum für sich benötigte oder jedenfalls zeitnah benötigen würde, sondern auch, dass die Mutter der drei Kinder nicht auf Dauer ohne eigenen Rückzugsort in einem Zimmer mit einem oder mehreren Kindern leben konnte.

Was würdigte das Gericht besonders bei der Leistungsempfängerin

Besonders gewürdigt hat die Kammer dabei auch, dass die Hilfebedürftige bereit war, über viele Monate die Differenz zwischen den vom Jobcenter bewilligten und den tatsächlich anfallenden Kosten aus anderen, mutmaßlich knappen Mitteln zu finanzieren und dabei offenbar erhebliche Einsparungen an anderer Stelle vornehmen zu müssen.

Hinzu tritt, dass der Umzug innerhalb des Wohnhauses der Kläger nicht nur dem besonderen Vorteil bot, der Alleinerziehenden einen unaufwendigen und kostenarmen Umzug durchzuführen, sondern auch, das Wohnumfeld der Kinder nicht zu verändern.

Aus Sicht der Kammer liegt es auf der Hand, dass sich von diesen Motiven auch ein durchschnittlicher Nicht-Hilfeempfänger hätte leiten lassen.

Das folgt auch daraus, dass nicht abzusehen war, wann der Bedarfsgemeinschaft auf dem jedenfalls angespannten Berliner Wohnungsmarkt ein solches Angebot noch einmal zur Verfügung gestanden hätte.

Mit Blick auf die überzeugende Motivlage hatte die Kammer keine Zweifel daran, dass diese Motivation auch in einem angemessenen Verhältnis zu den entstandenen Mehrkosten steht.

Zum Urteil Anmerkung von RA Matthias Göbe, Berlin

1. Das beigefügte Urteil hat einen solchen Passus hinsichtlich der Frage, ob eine alleinerziehe Mutter mit 3 Kindern in einer Wohnung, in der sie zu Gunsten der Kinder kein eigenes Zimmer hatte, in eine größere Wohnung (ohne vorherige Zusicherung des Jobcenters) umziehen durfte oder die neue Miete auf die bisherige Miete gedeckelt werden durfte, weil der Umzug nicht erforderlich war (jetziger § 22 Abs. 1 S. 5 SGB II).

2. Das Urteil enthält insoweit die lehrreiche Aussage, dass ein Kind im nahezu schulfähigen Alter einen eigenen Raum benötigt und auch die Mutter nicht auf Dauer ohne eigenen Rückzugsort in einem Zimmer mit einem oder mehreren Kindern leben konnte (was letztlich die Erforderlichkeit des Umzugs ausmacht, mit der Konsequent, dass die o.g. Deckelungsvorschrift auf die bisherige Miete nicht greift).

Rechtstipp vom Redakteur Detlef Brock

1. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 17.01.2024 – L 32 AS 1179/23 B ER:

1. Die AV-Wohnen Berlin vom 13.12.2022 enthält nach wie vor kein schlüssiges Konzept zur Bestimmung der Grenzen der Angemessenheit der Unterkunftskosten, denn sie ist normativ inkonsistent und daher schon begrifflich nicht schlüssig.

2. Bei Anwendung der um den Faktor 1,1 erhöhten Werte der Wohngeldtabelle (Anlage 1 zu § 12 Abs 1 WoGG) dürfte § 12 Abs 7 WoGG (Klimakomponente) zu berücksichtigen sein.

2. LSG Berlin- Brandenburg, Urt. vom 30.03.2023 – L 32 AS 1888/17 –

1. Berliner Jobcenter muss volle Mietkosten anerkennen – Vergleich mit Sozialmieten erforderlich
+
2. Wohnraum der nach den Vorgaben des sozialen Wohnungsbaus und des WoGG angemessen ist, kann jedenfalls in angespannten Wohnungsmärkten nicht grundsicherungsrechtlich unangemessen sein.

Das sollte man wissen und kennen:
Muss jedes Kind in einer Bedarfsgemeinschaft ein eigenes Zimmer haben?
Bei mehreren Kindern darf die Wohnung wie viele Zimmer haben?
Steht jedem Erwachsenem ein eigenes Wohnzimmer und Schlafzimmer zu?

Ein Beitrag von Detlef Brock – Redakteur von gegen-hartz.de und Tacheles e.V.

1. LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 05.02.2021 – L 7 AS 3542/20 ER-B –
Das Jobcenter wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet höhere Kosten der Unterkunft zu gewähren, denn Angemessen für einen Neun – Personen-Haushalt mit 7 Kindern kann eine Wohnfläche bis 165 qm oder neun Zimmer sein. Insgesamt dürfte den Antragstellern unter Berücksichtigung des jeweiligen Geschlechts und der Altersunterschiede der Antragsteller damit Wohnraum mit mindestens sechs oder gar sieben Zimmern zuzugestehen sein.

2. Thüringer Landessozialgericht, Urt. v. 08.01.2020 – L 4 AS 1246/16 – nachgehend BSG, Urteil vom 21.07.2021 – B 14 AS 31/20 R –
Besteht wegen der Wahrnehmung des Umgangsrechts mit einem Kind ein zusätzlicher Wohnraumbedarf, kann dieser im Rahmen der konkreten Angemessenheit der Unterkunfts- und Heizaufwendungen zu berücksichtigen sein. Dies gilt auch für die Wahrnehmung des Umgangsrechts mit einem Pflegekind nach § 1685 Abs 2 BGB.

3. Sächsisches LSG, Beschluss vom 12.03.2012 – L 7 AS 985/11 B ER –
Eine Rechtsprechung, wonach einem Erwachsenen zwingend ein Wohn- und ein Schlafzimmer zur Verfügung stehen muss, existiert nicht.

4. LSG NRW, Beschluss vom 23.01.2015 – L 7 AS 1873/14 B – rechtskräftig –
Keine Erteilung der Zusicherung nach § 22 Abs. 4 SGB II, wenn der Umzug nicht erforderlich ist – Durchgangszimmer ausreichend

1. 54 qm große Zweizimmerwohnung für Mutter und 1 jährigen Sohn ausreichend, Umzug in eine 59 qm große Wohnung nicht erforderlich.

2. Der 1 jährige Sohn der Antragstellerin verfügt über ein eigenes Kinderzimmer. Der Antragstellerin steht mit dem Wohnzimmer – auch wenn es sich um ein Durchgangszimmer handelt – ein Rückzugsort zur Verfügung.

5. Sächsisches LSG, Beschluss vom 03.04.2011- L 7 AS 753/10 B ER –
Das LSG Chemnitz hat entschieden, dass es in der Regel zumutbar ist, dass sich zwei Kinder im Alter von vier und fast zwei Jahren ein gemeinsames Kinderzimmer teilen.

Hinweis zum Urteil des Berlin vom Redakteur Detlef Brock
Das Gericht hatte ja offen gelassen, ob die tatsächlichen Kosten der Unterkunft nicht aufgrund des § 67. Abs. 3 SGB II zu übernehmen wären, was heißt:

1. Eine Angemessenheitsprüfung der KdUH wird nicht vorgenommen. Die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung gelten „für die Dauer von sechs Monaten” als angemessen.

2. § 67 Abs. 3 SGB II findet nicht nur auf Neu-, sondern auch auf Fortzahlungsanträge Anwendung.

Inzwischen hat aber das BSG mit Urteil vom 14.12.2023 – B 4 AS 4/23 R – entschieden

1. Für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 1.3.2020 bis zum 31.3.2022 beginnen, sind aufgrund der im damaligen Zeitraum herrschenden COVID-Pandemie, Sonderregeln im SGB II geschaffen worden, die auch im vorliegenden Fall als einschlägig zu beachten sind.

Nach § 67 Abs. 3 S. 1 SGB II ist der zitierte § 22 Abs. 1 SGB II im vorbenannten Zeitraum mit der Maßgabe anzuwenden, dass die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung „für die Dauer von sechs Monaten als angemessen gelten“.

Dies bedeutet, dass in solchen Fällen eine Angemessenheitsprüfung der KdUH nicht vorgenommen wird.

2. Diese Sondervorschrift gilt für alle im vorgenannten Zeitraum beginnenden Bewilligungszeiträume, also sowohl für „neue“ Bewilligungen an Berechtigte, die bisher noch nicht im SGB II-Leistungsbezug standen.

Aber auch für Personen, die bereits länger im Leistungsbezug stehen und entsprechende Weiterbewilligungsanträge gestellt haben.

3. Somit wären allein aufgrund der Pandemie und der Sondervorschrift des § 67 Abs. 3 SGB II die tatsächlichen Kosten der Unterkunft zu übernehmen gewesen!