Warum viele Menschen auf das Bürgergeld eher verzichten

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In der anhaltenden Diskussion um das Bürgergeld wird immer wieder das Argument angeführt, dass viele Menschen sogar ihre Arbeit kündigen, um das vermeintlich sorgenfreie Bürgergeld zu beziehen. Dieses scheinbare Argument ist längst widerlegt. Tatsächlich gibt es nicht wenige Menschen, die weder das frühere Hartz IV noch das heutige Bürgergeld in Anspruch nehmen (wollen).

Die Sozialwissenschaftlerin Jennifer Eckhardt ist der Frage nachgegangen, warum Menschen, die Anspruch auf Sozialleistungen hätten, lieber darauf verzichten.

Warum beantragen viele Menschen keine Sozialleistungen?

Rund 40 Prozent der Anspruchsberechtigten in Deutschland beantragen nach Schätzungen von Experten kein Arbeitslosengeld II. Die Gründe dafür sind laut Eckhardt vielfältig.

Zum einen könne es daran liegen, dass die Menschen bewusst protestieren und sich damit vom Staat abgrenzen wollen, sagte die Expertin. Zum anderen könnten es aber auch negative Erfahrungen mit dem Sozialsystem sein, die Menschen davon abhalten, zum Beispiel Bürgergeld zu beantragen.

Eckhardt betonte, dass die Nichtinanspruchnahme ein Problem sei, das oft zu wenig beachtet werde. Es handele sich um eine politische Positionierung oder eine Form der Selbstermächtigung, mit der Menschen ihre Würde bewahren wollten.

Im Extremfall müssten Menschen aber auch auf lebensnotwendige Güter wie Nahrung verzichten, weil sie finanzielle Unterstützung nicht in Anspruch nehmen wollten.

Keine Massenkündigungen beim Bürgergeld

Ist es eher Unwissenheit über den Anspruch?

Es gebe aber auch Menschen, die nicht wüssten, dass sie ein Recht darauf hätten. Es gäbe zwar die Situation “völliger Unwissenheit”, das Ausmaß des Problems sei aber eher gering einzuschätzen. “Außer wenn es um besondere Zugangsprobleme geht, wie zum Beispiel bei Flucht oder Behinderung. Bei Sprachbarrieren ist es noch mal schwieriger”, so die Wissenschaftlerin in dem Interview.

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Viele Anspruchsberechtigte wollen einfach nicht mehr mit dem Sozialsystem in Berührung kommen, auch wenn sie es grundsätzlich befürworten.

Demütigungen im Amt

Einige Menschen, mit denen die Forscherin ein Interview geführt hat, sind vor Jahren mit dem Sozialsystem in Kontakt gekommen.”Eine Betroffene hat mir erzählt, dass sie im Jobcenter als “Missgeburt” bezeichnet worden sei, als zu alt, als zu kaputt für den Arbeitsmarkt, berichtet Eckhardt.

Einer gelernten Feinmechanikerin wurde von einer Mitarbeiterin des Jobcenters gesagt, sie habe nichts gelernt und sei zu alt. Diese Erfahrung führte bei ihr zu einer schweren Depression.

Doch anstatt sich weiter demütigen zu lassen, setzte sie dem ein Ende und bewahrte sich ihre Menschenwürde, indem sie auf die Zumutungen verzichtete.

Wird das Bürgergeld an der Situation etwas verändern?

Das Bürgergeld ändere daran wenig, so die Expertin. Der Armutsforscher Christoph Butterwegge bezeichnete das Bürgergeld als “Reformruine”. Das, was vom Bürgergeld übrig geblieben sei, habe wenig mit dem zu tun, wofür es einmal gedacht war.

Es wird nicht aufgeklärt

Im Gegensatz zu Deutschland werden in anderen Ländern Maßnahmen ergriffen, damit die Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen reduziert wird. “Da werden regelmäßig Erhebungen gemacht. Da wird berichtet. Das ist in Deutschland nicht der Fall.” Daher könne man eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass es hierfür hierzulande kein Interesse gibt.

Zur Person:Jennifer Eckhardt ist Sozialwissenschaftlerin an der Technischen Universität Dortmund. Ihre Dissertation „Spannungsfeld Nichtinanspruchnahme“ ist soeben erschienen.