Wird bei der Pflegegrad-Einstufung oft falsch entschieden? Die Zahl der Korrekturen nach Widersprรผchen gibt darauf eine deutliche Antwort. Im Jahr 2022 wurden rund 180.000 Widersprรผche gegen abgelehnte oder zu niedrig eingestufte Pflegegrade eingelegt.
Ungefรคhr 55.000 dieser Widersprรผche endeten mit einer Korrektur zugunsten der Betroffenen, weil der tatsรคchliche Unterstรผtzungsbedarf unterschรคtzt worden war. Das bedeutet, dass nahezu jeder dritte Widerspruch erfolgreich war und viele Menschen einen niedrigeren Pflegegrad bekamen, als ihnen eigentlich zustand.
Dies zeigt, dass es nicht nur bei der Gutachtenerstellung, sondern auch schon vorher, wรคhrend der Begutachtung oder bei der Vorbereitung darauf, hรคufiger zu Fehlern kommt. Doch welche Fehler sind das konkret und wie kann man sich dagegen wappnen?
Warum sollte niemand allein in die Begutachtung gehen?
Viele Menschen meinen, die Begutachtung sei eine reine Formsache und wรผrden die wenigen Fragen des Gutachtenden wohl auch allein beantworten kรถnnen. Oft zeigt sich jedoch im Gesprรคch, dass jemand, der regelmรครig pflegerische Unterstรผtzung erhรคlt, manche eigene Schwierigkeiten gar nicht mehr richtig wahrnimmt oder gern โkleinredetโ.
Aus Scham oder Gewohnheit werden Einschrรคnkungen verharmlost oder gar nicht erst erwรคhnt. Genau an diesem Punkt ist es essenziell, dass eine Pflegeperson, ein Angehรถriger oder eine enge Vertrauensperson beim Begutachtungstermin anwesend ist.
Wer jemanden mit einem objektiveren Blick an seiner Seite hat, kann sicherstellen, dass alle wichtigen Punkte zur Sprache kommen. Sollte niemand Zeit haben, lohnt es sich unbedingt, um eine Verschiebung des Begutachtungstermins zu bitten.
Wieso kann eine aufgerรคumte Wohnung zum Problem werden?
Wenn Besuch angekรผndigt ist, rรคumen viele Menschen ihre Wohnung besonders grรผndlich auf. Die Motive dafรผr sind allzu menschlich: Man mรถchte sich nicht in seiner Lebenssituation bloรstellen und einen guten Eindruck hinterlassen.
Doch wenn ein Gutachter oder eine Gutachterin vor Ort die Pflegesituation erfassen soll, kann ein klinisch-sauberer Haushalt den Bedarf an Unterstรผtzung verschleiern. Der Eindruck kann entstehen, dass Alltagsaufgaben mรผhelos bewรคltigt werden.
Dabei sagt eine etwas unordentlichere Umgebung oft viel realistischer aus, wie es tatsรคchlich um die Kraft und Beweglichkeit oder die psychische Verfassung der zu begutachtenden Person steht.
Wie zeigt man sich, ohne eigene Schwรคchen zu verbergen?
Die meisten Menschen mรถchten eigenstรคndig und stark wirken und tun sich schwer damit, eigene Einschrรคnkungen offenzulegen. Gerade im Rahmen der Pflegegrad-Begutachtung ist es jedoch wichtig, ehrlich zu sein und nichts zu beschรถnigen.
Wenn man Schmerzen beim Anziehen, unsichere Schritte beim Gehen oder Angstzustรคnde verspรผrt, sollte man das auch so kommunizieren. Denn an diesen Merkmalen bemisst sich, wie hoch der kรผnftige Pflegegrad ausfรคllt.
Es fรคllt vielen schwer, sich einzugestehen, dass sie auf Hilfe angewiesen sind โ aber nur eine realistische Darstellung der eigenen Lage fรผhrt zu einem angemessenen Ergebnis.
Offene Kommunikation wichtig
Gerade Angehรถrige oder Pflegepersonen merken oft, wenn die pflegebedรผrftige Person sich im Gesprรคch zurรผckhรคlt oder Schwierigkeiten gar nicht erwรคhnt. In solchen Momenten ist es sinnvoll, den Gutachter um ein kurzes Gesprรคch unter vier Augen zu bitten.
Das ist ausdrรผcklich erlaubt, denn nur so kรถnnen auch Aspekte zur Sprache kommen, die der pflegebedรผrftigen Person womรถglich unangenehm sind oder die sie selbst zu verharmlosen versucht. Diese offene Kommunikation ist ein wichtiges Korrektiv fรผr das Gutachten und sorgt dafรผr, dass keine falsche Einschรคtzung entsteht.
Kann man ungeklรคrte Fragen einfach offenlassen?
Die Themen, die bei einer Begutachtung wichtig sind, betreffen hรคufig Bereiche, รผber die viele Menschen nicht gern sprechen.
Fragen zu Inkontinenz, psychischen Problemen, Angstzustรคnden oder sogar zu intimen Pflegesituationen werden in einem Gesprรคch mit Fremden gern heruntergespielt. Doch diese Aspekte sind oft ausschlaggebend fรผr die Einstufung.
Wer Fragen aus Scham oder Zeitdruck nicht beantwortet, nimmt in Kauf, dass der tatsรคchliche Pflegebedarf nicht richtig erfasst wird. Auch wenn es unangenehm sein mag, lohnt es sich, auf jede Frage einzugehen.
Wenn Unsicherheiten bestehen, sollten sie angesprochen werden โ denn nur so erhalten Gutachterinnen und Gutachter ein realistisches Bild.
Vorbereitung auf den Begutachtungstermin
Oft ist die fehlende Vorbereitung der Grund dafรผr, dass Menschen beim Begutachtungstermin wichtige Details vergessen oder notwendige Unterlagen nicht parat haben.
Ein รคrztliches Attest zur chronischen Erkrankung oder ein Nachweis รผber wiederkehrende medizinische Behandlungen kann den Pflegebedarf belegen.
Wer frรผhzeitig alle relevanten Dokumente zusammensucht und wichtige Informationen, etwa mithilfe eines Pflegetagebuchs, notiert, kann den Gesprรคchsverlauf deutlich strukturierter gestalten.
Wie helfen kostenlose Hilfsmittel bei der Einschรคtzung?
Ein Pflegetagebuch ist eine weitere groรe Hilfe, um den Alltag realistisch darzustellen. Darin lรคsst sich festhalten, bei welchen Verrichtungen โ ob Kรถrperpflege, Haushaltsfรผhrung oder beim Essen โ regelmรครig Hilfe benรถtigt wird und wie viel Zeit das in Anspruch nimmt.
Wer dieses Tagebuch vor dem Termin gewissenhaft fรผhrt, gibt dem medizinischen Dienst eine solide Grundlage zur Beurteilung. Sowohl der โRatgeber Pflege-Checkโ als auch das Pflegetagebuch werden kostenfrei angeboten, etwa รผber bestimmte Apotheken oder per Download.
Gerade fรผr Erstbetroffene ist es enorm hilfreich, mit solchen Unterlagen vorbereitet in das Gesprรคch zu gehen und dem Gutachter somit ein verlรคssliches, strukturiertes Bild zu liefern.
Was passiert nach der Begutachtung?
Das Pflegegutachten wird vom Medizinischen Dienst erstellt und anschlieรend von der Pflegekasse ausgewertet. Hierbei kann es ebenfalls passieren, dass der ermittelte Pflegegrad nicht den tatsรคchlichen Verhรคltnissen entspricht.
In einem solchen Fall sollte man sich nicht scheuen, einen Widerspruch einzulegen. Wer vorbereitet in die Begutachtung geht, hat meist schon alle notwendigen Informationen beisammen, die auch im Widerspruchsverfahren erneut relevant werden kรถnnen.
Sollte es tatsรคchlich zu einem ablehnenden Bescheid oder einer zu geringen Einstufung kommen, gibt es dafรผr spezielle Anleitungen und Hilfen, die den Prozess verstรคndlich erlรคutern.
Ein Beispiel aus der Praxis
Ein beispielhafter Fall aus der Praxis zeigt, wie schnell eine falsche Einschรคtzung des Pflegebedarfs geschehen kann. Frau Lehmann, 72 Jahre alt, hatte vor einiger Zeit einen Schlaganfall erlitten und musste fortan Unterstรผtzung bei Alltagstรคtigkeiten in Anspruch nehmen.
Ihre Tochter, die in einer Nachbarstadt lebt, kรผmmert sich regelmรครig um ihre Mutter, indem sie Einkรคufe erledigt, den Haushalt organisiert und bei der Kรถrperpflege hilft.
Als der Termin zur Pflegebegutachtung anstand, versuchte Frau Lehmann jedoch, sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Sie rรคumte ihr Zuhause auf, trug sich selbst den Mรผll hinunter und blieb wรคhrend des Besuchs des Gutachters in der Haltung, dass sie das meiste allein bewรคltigen kรถnne.
In Wirklichkeit kostete sie jeder dieser Handgriffe groรe Anstrengung und sie war danach hรคufig so erschรถpft, dass sie sich sofort hinlegen musste. Doch aus Scham vermied sie es, dies offen zuzugeben, und die Tochter hatte am Tag des Termins keine Gelegenheit, bei der Begutachtung dabei zu sein. Der Gutachter ging folglich davon aus, Frau Lehmann benรถtige nur sehr eingeschrรคnkte Hilfe.
Die Einstufung in einen Pflegegrad blieb deutlich unter dem, was tatsรคchlich nรถtig gewesen wรคre. Erst nach einem erneuten Termin, bei dem die Tochter anwesend war, lieร sich die wahre Situation klรคren.
Die Tochter beschrieb detailliert, in welchen Bereichen ihre Mutter konkret Unterstรผtzung braucht und wie schnell sie sich nach kleinen Arbeiten erschรถpft fรผhlt. Mit dieser offenen Kommunikation, dazu passenden รคrztlichen Unterlagen und einem Pflegetagebuch, das รผber einige Wochen hinweg gefรผhrt wurde, lieร sich der tatsรคchliche Pflegebedarf verlรคsslich belegen. In der Folge erhielt Frau Lehmann den Pflegegrad, der ihren realen Einschrรคnkungen entsprach.