Obwohl klare gesetzliche Rahmenbedingungen bestehen und viele Unternehmen längst auf inklusive Personalstrategien setzen, halten sich zahlreiche Irrtümer hartnäckig. Diese Missverständnisse führen zu Unsicherheit, falschen Personalentscheidungen und verschenken Potenzial.
Der folgende Beitrag räumt mit den gängigsten Fehleinschätzungen auf, zeigt fundierte Hintergründe und liefert konkrete Beispiele aus der Praxis.
Inhaltsverzeichnis
Irrtum 1: „Schwerbehinderte sind weniger leistungsfähig.“
Die Annahme, eine anerkannte Schwerbehinderung gehe automatisch mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit einher, hält sich hartnäckig – ist aber falsch. Oft sind Vorurteile und Unwissen über Menschen mit Behinderung die Ursache dieser Fehlwahrnehmung.
Viele Einschränkungen betreffen nämlich Bereiche, die für die konkrete Tätigkeit keinerlei Bedeutung haben. Leistungsfähigkeit hängt wie bei allen Beschäftigten von Qualifikation, Motivation und Arbeitsgestaltung ab. Diese Eigenschaften zeigen Arbeitnehmer mit Behinderung sogar überdurchschnittlich stark. Menschen mit Behinderung bringen zudem häufig besondere Stärken wie hohe Resilienz und Problemlösungskompetenz mit.
Ein Praxisbeispiel: Ein Techniker mit Beinprothese in einem Maschinenbauunternehmen war einer der präzisesten und produktivsten Mitarbeiter im Team. Seine Einschränkung beeinflusste seine Kernaufgaben in keiner Weise.
Irrtum 2: „Schwerbehinderte verursachen hohe Zusatzkosten.“
Anpassungen am Arbeitsplatz sind in den meisten Fällen günstig und werden häufig sogar vollständig durch Integrationsamt, Arbeitsagentur oder Rentenversicherung übernommen. Arbeitgeber sparen darüber hinaus Ausgleichsabgaben, wenn sie die gesetzliche Beschäftigungsquote erfüllen.
Ein Praxisbeispiel: Eine neue Mitarbeiterin mit Sehbehinderung erhielt einen Screenreader und einen großen Monitor. Die Ausstattung wurde komplett gefördert – der Betrieb gewann eine qualifizierte Fachkraft ohne zusätzliche Kosten.
Irrtum 3: „Die Einstellung ist kompliziert und bürokratisch.“
Der Bewerbungsprozess unterscheidet sich nicht vom regulären Verfahren. Zusätzliche Bürokratie entsteht nur, wenn Unternehmen Förderungen nutzen möchten – und selbst dann unterstützen Integrationsfachdienste bei nahezu allen Schritten. Vieles läuft digital und überraschend unkompliziert.
Ein Praxisbeispiel: Ein IT-Dienstleister wollte Fördermittel für einen neuen Mitarbeiter beantragen. Der Integrationsfachdienst übernahm fast alle Formalitäten; das Unternehmen musste lediglich wenige Formulare ausfüllen.
Irrtum 4: „Kündigungen sind unmöglich.“
Arbeitnehmer mit Schwerbehinderung haben zwar Anspruch auf einen besonderen Kündigungsschutz. Das bedeutet aber nicht, dass sie unkündbar wären. Kündigungen schwerbehinderter Beschäftigter sind möglich, erfordern aber die Zustimmung des Integrationsamts.
Ziel ist es nicht, Unternehmen zu blockieren, sondern sicherzustellen, dass Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden. Entscheidend ist deshalb die Frage, ob die Gründe für eine Kündigung behinderungsbedingt sind.
Welche Kündigungsgründe sind behinderungsbedingt?
Behinderungsbedingt sind Gründe dann, wenn die Einschränkung selbst direkt zu Problemen im Arbeitsverhältnis führt – etwa wenn Fehlzeiten eindeutig auf die Behinderung zurückzuführen sind oder wenn Beschäftigte bestimmte Aufgaben trotz angemessener Anpassungen dauerhaft nicht erfüllen können.
In solchen Fällen wird geprüft, ob Alternativen zur Kündigung möglich sind. Nicht behinderungsbedingt sind Gründe, wenn das Problem unabhängig von der Einschränkung entsteht, etwa durch mangelnde Motivation, unzureichende Qualifikation oder betriebliche Notwendigkeiten wie Stellenabbau.
Praxisbeispiel: Ein Außendienstmitarbeiter mit Schwerbehinderung erzielte über Jahre schlechte Ergebnisse, unabhängig von seiner Einschränkung. Das Integrationsamt stimmte der Kündigung zu, da die Ursachen nichts mit der Behinderung zu tun hatten.
Irrtum 5: „Menschen mit Schwerbehinderung fehlen häufiger.“
Dieses Vorurteil hält sich leider hartnäckig, doch die Realität sieht anders aus. Untersuchungen zeigen, dass Fehlzeiten meist vom Arbeitsumfeld und betrieblichen Gesundheitsmanagement abhängen – nicht vom Schwerbehindertenstatus. Gut angepasste Arbeitsplätze, flexible Pausen oder Homeoffice wirken stabilisierend und können krankheitsbedingte Ausfälle verringern.
Praxisbeispiel: Ein Logistikteam mit mehreren chronisch erkrankten Mitarbeitenden hatte nach ergonomischen Anpassungen eine geringere Krankenquote als der Unternehmensdurchschnitt.
Irrtum 6: „Behinderung bedeutet automatisch Vollzeit-Unfähigkeit.“
Viele Menschen mit Schwerbehinderung arbeiten ohne Probleme Vollzeit. Eine Behinderung bedeutet nicht zwangsläufig reduzierte Arbeitszeit, sondern manchmal lediglich eine andere Arbeitsorganisation – beispielsweise flexible Pausen, individuell anpassbare Schichten oder einzelne Homeoffice-Tage.
Praxisbeispiel: Ein Mitarbeiter mit Diabetes blieb vollzeitfähig, benötigte aber flexible Pausen. Seit der Anpassung erreichte er konstant überdurchschnittliche Ergebnisse.
Irrtum 7: „Schwerbehinderte wollen nicht über ihre Einschränkung sprechen.“
Ob jemand über seine Behinderung spricht, ist individuell. Viele Beschäftigte tun es gern, wenn es dazu beiträgt, Arbeitsabläufe zu verbessern. Andere bevorzugen Diskretion. Entscheidend ist ein respektvoller Umgang und die klare Botschaft, dass Unterstützung möglich ist, aber kein Zwang besteht.
Praxisbeispiel: Eine sehbehinderte Mitarbeiterin bat um kontrastreichere Präsentationen. Die Änderungen verbesserten die Lesbarkeit für das gesamte Team.
Irrtum 8: „Betriebliche Anpassungen sind teuer und aufwendig.“
Manche Arbeitgeber scheuen sich davor, Arbeitnehmer mit Schwerbehinderung einzustellen, weil sie fürchten, dass die Gestaltung des Arbeitsumfeldes mit hohen Kosten und großem Aufwand verbunden ist.
Tatsächlich zeigt die Praxis, dass die meisten Anpassungen schnell umsetzbar, kostengünstig und oft sogar positiv für den ganzen Betrieb sind. Häufig reichen ergonomische Hilfen wie höhenverstellbare Tische oder orthopädische Stühle, technische Lösungen wie Spracherkennungssoftware oder Screenreader oder organisatorische Maßnahmen wie flexible Pausen oder Homeoffice.
Anpassungen helfen oft allen Beschäftigten
Auch kleine bauliche Veränderungen – etwa rutschfeste Bodenbeläge oder kontrastreiche Ausschilderungen – schaffen Barrierefreiheit, ohne das Budget zu belasten. Viele dieser Maßnahmen erhöhen zugleich die Arbeitsqualität für alle Beschäftigten.
Ergonomische Möbel reduzieren Rückenschmerzen im gesamten Team, verbesserte Beleuchtung steigert die Konzentration, und barrierefreie IT kommt jedem zugute, der Präsentationen liest oder an langen Meetings teilnimmt. Selbst Umbauten, die aufwendig erscheinen, wie etwa der Einbau automatischer Türöffner, erhöhen den Komfort für sämtliche Mitarbeitende, Besucher und Kunden.
Arbeitgeber bekommen umfassende Unterstützung
Arbeitgeber müssen solche Anpassungen zudem nicht allein finanzieren. Integrationsämter übernehmen häufig die gesamten Kosten für technische Arbeitshilfen oder ergonomische Ausstattung. Arbeitsagentur und Rentenversicherung unterstützen bei Qualifizierung und Arbeitsplatzanpassungen.
Hinzu kommen kostenlose Beratungen durch Integrationsfachdienste, technische Beratungsdienste und die Schwerbehindertenvertretung, die Unternehmen durch den Prozess führen. Der Arbeitgeber ist, im Unterschied zu sonstigen Umgestaltungen des Betriebs, nicht allein, sondern bekommt Unterstützung von vielen Seiten.
Praxisbeispiel: Ein Mitarbeiter mit Rheuma erhielt einen höhenverstellbaren Tisch und ergonomische Geräte. Die Kosten waren gering und wurden vollständig gefördert. Das Team nutzt die neuen Tische mittlerweile ebenfalls regelmäßig – mit spürbar positiver Wirkung auf die Arbeitszufriedenheit.
Irrtum 9: „Schwerbehinderte passen nicht ins Team.“
Ob ein Mitarbeiter in ein Team passt, liegt am Team und am Mitarbeiter, und nicht daran, ob dieser Beschäftigte schwerbehindert ist oder nicht.
Vielfalt stärkt Teams – das gilt auch für Menschen mit Behinderung. Unterschiedliche Perspektiven fördern kreative Lösungen, nachhaltige Entscheidungen und eine offenere Kultur. Viele Beschäftigte mit Behinderung bringen wertvolle Erfahrungen im Umgang mit Herausforderungen mit.
Praxisbeispiel: Ein Kollege im Rollstuhl stellte im Projektalltag regelmäßig Fragen, die etablierte Abläufe hinterfragten. Seine Perspektive führte zu mehreren optimierten Prozessen, die das gesamte Team entlasteten.
Irrtum 10: „Arbeitgeber tragen allein die Verantwortung.“
Inklusion ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Schwerbehindertenvertretung, Betriebsrat, Integrationsamt, Agentur für Arbeit, Reha-Träger und externe Dienste unterstützen Arbeitgeber umfassend. Niemand muss Entscheidungen allein treffen oder Lösungen ohne Beratung finden.
Arbeitgeber können sich für Fragen, die Beschäftigte mit Schwerbehinderung betreffen, stets an das Integrationsamt, die Agentur für Arbeit oder die Schwerbehindertenvertretung wenden, je nachdem, um welche Frage es sich handelt.
Praxisbeispiel: Ein Industriebetrieb führte einen monatlichen runden Tisch ein, an dem Personalabteilung, Führungskräfte, SBV und externe Berater zusammenkamen. Probleme wurden schneller gelöst, und die Zufriedenheit stieg deutlich.
FAQ: Fünf häufige Fragen zur Schwerbehinderung im Job
1. Ab wann gilt man als schwerbehindert?
Ab einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 gilt eine Schwerbehinderung, und damit besteht auch der Anspruch auf die entsprechenden Nachteilsausgleiche am Arbeitsplatz. Bei GdB 30–40 ist eine Gleichstellung möglich, wenn sie zur Sicherung eines Arbeitsplatzes nötig ist.
2. Muss ich die Schwerbehinderung im Bewerbungsgespräch offenlegen?
Nicht immer, und nur in bestimmten Situationen. Es gilt nur dann, wenn die Einschränkung sicherheitsrelevant ist oder bestimmte Tätigkeiten unmöglich macht. Ansonsten besteht keine Offenlegungspflicht.
3. Welche Vorteile haben Arbeitgeber?
Arbeitgeber erhalten finanzielle Förderungen, umfassende Beratung, eine geringere Ausgleichsabgabe und profitieren oft langfristig von sehr loyalen und gut integrierten Mitarbeitern.
4. Welche Rechte haben schwerbehinderte Beschäftigte?
Nachteilsausgleiche für Menschen mit Schwerbehinderung am Arbeitsplatz umfassen unter anderem Zusatzurlaub, besonderen Kündigungsschutz, Hilfsmittelversorgung, barrierefreie Arbeitsplatzgestaltung und Unterstützung durch die Schwerbehindertenvertretung.
5. Wie läuft eine Arbeitsplatzanpassung ab?
Dazu gehören Bedarfsermittlung, Antragstellung, Prüfung der Förderfähigkeit, Umsetzung. Integrationsamt und Arbeitsagentur begleiten die Schritte und übernehmen oft die Kosten.
Kein Hindernis, sondern ein Potenzial
Schwerbehinderung ist kein Hindernis, sondern ein oft noch zu wenig genutztes Potenzial. Unternehmen, die Irrtümer hinter sich lassen und den Blick für Fakten schärfen, schaffen moderne Arbeitsbedingungen, stärken ihre Teams und sichern sich langfristig qualifizierte Fachkräfte. Inklusion ist kein Sonderweg – sondern ein Wettbewerbsvorteil.




