Urteil: Rentenbescheid unlesbar und bürokratisches Ungetüm

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Ein „bürokratisches Ungetüm” in Form eines 32-seitigen Rentenbescheides ist für einen Versicherten mit geringem Bildungsniveau nicht les- und verstehbar. Entspricht die Rentenhöhe in etwa den Erwartungen des Versicherten, genügt er „seinen Sorgfaltspflichten auch dann, wenn er von dem untauglichen Versuch, ein Verständnis derartiger Bescheide zu entwickeln, nach der probeweisen Lektüre der ersten ein bis zwei Seiten Abstand nimmt”, entschied das Sozialgericht Karlsruhe in einem veröffentlichten Urteil (Az.: S 12 R 1017/21).

Werde ein am Ende des Bescheides aufgeführter Fehler in der Rentenberechnung nicht bemerkt, stellt dies keine grobe Fahrlässigkeit dar.

Im konkreten Fall ging es um einen ausgebildeten Maler, der zuletzt 30 Jahre als Gärtner beschäftigt war. 1992 hatte er sich von seiner Ehefrau scheiden lassen, so dass seine Rentenanwartschaften mit ihr im Rahmen eines Versorgungsausgleichs aufgeteilt wurden. Die Rentenansprüche des Mannes verringerten sich damit.

Als er bei seinem Rentenversicherungsträger eine Rente für besonders langjährig Versicherte beantragte, wurde diese auch bewilligt. In einem 32-seitigen Rentenbescheid wurde aufgeführt, dass ihm eine Rente in Höhe von monatlich 1.320 Euro zusteht.

Auf Seite 28 des Bescheides wurde darauf hingewiesen, dass der vor Jahrzehnten durchgeführte Versorgungsausgleich sich zu seinen Gunsten erhöhend auf die Rente auswirke.

Doch als seine geschiedene Ehefrau ebenfalls eine Rente beantragte und auf den Versorgungsausgleich hinwies, stellte der Rentenversicherungsträger fest, dass er die Rente des Mannes falsch berechnet hatte. Statt die Rente wegen des Versorgungsausgleichs beim Kläger zu verringern, wurde diese entsprechend erhöht.

SG Karlsruhe: Lesen nur der ersten zwei Seiten nicht grob fahrlässig

Der Rentner hatte im Zeitraum Februar 2017 bis Ende August 2019 damit insgesamt 6.762 Euro zu viel erhalten. Da die Rentenversicherung den Fehler zu verantworten hatte, verzichtete sie auf ein Drittel des überzahlten Betrages. Der Rentner sollte aber 4.508 Euro zurückzahlen.

Die zu hohe Rente hätte dem Kläger beim Durchlesen des Bescheides auch „einleuchten müssen”. Denn auf Seite 28 des Bescheides sei die fehlerhafte Rechnung klar zu erkennen. Denn dort werde darauf hingewiesen, dass der Versorgungsausgleich „zu seinen Gunsten” und nicht „zu seinen Lasten” durchgeführt wurde.

Das Sozialgericht urteilte am 17. Dezember 2021 jedoch, dass der Kläger die überzahlte Rente gar nicht erstatten muss. Zwar müssten normalerweise bei einem rechtswidrigen Rentenbescheid zu viel erhaltene Leistungen wieder zurückgezahlt werden.

Da der Rentner das Geld ausgegeben habe, könne er sich aber auf Vertrauensschutz berufen. Zwar sei die Überzahlung der Rente auf Seite 28 des Bescheides ersichtlich geworden. Der Kläger habe aber seine Sorgfaltspflichten nicht grob fahrlässig verletzt, nur weil er den Bescheid nicht zu Ende gelesen habe.

Rentenbescheid verstehen kann nicht verlangt werden

Weiche die Rente nicht erheblich von der erwarteten Rentenhöhe ab, könne von einem einfach gebildeten Bürger nicht verlangt werden, dass er einen komplizierten 32-seitigen Rentenbescheid bis zum Ende liest und diesen versteht.

Ihm könne bei solch einem „bürokratischen Ungetüm” nicht die vollständige Lektüre zugemutet werden. Grob fahrlässig sei dies nicht, so dass der Vertrauensschutz greife.

Auch der juristische Begriff des “Versorgungsausgleichs” werde im Bescheid nicht näher erläutert. “Selbst doppelt staatsexaminierte Volljuristen beherrschen dieses hochkomplexe Rechtsinstitut regelmäßig allenfalls in Grundzügen, und zwar selbst dann, wenn sie zufällig einen familienrechtlichen oder sozialrechtlichen Studienschwerpunkt gewählt haben und fachlich überdurchschnittlich befähigt sind”, befand das Sozialgericht. fle/mwo