Sozialhilfe: Im Einzelfall Anspruch auf Übernahme unangemessener Kosten der Unterkunft länger als 6 Monate

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Auch bei unangemessenen Kosten der Unterkunft können Sozialhilfe Leistungsempfänger in ihrer Wohnung verbleiben, wenn gesundheitliche Gründe – wie eine andauernde psychiatrische Erkrankung – den Umzug unmöglich machen.

Der Sozialhilfeträger muss im – Einzelfall – die unangemessen hohen Kosten der Unterkunft übernehmen, wenn eine schwere, länger andauernde psychiatrische Erkrankung einen Umzug außerhalb der konkreten örtlichen Lebensverhältnisse sich verbietet und dort angemessener Wohnraum nicht an mietbar ist. So entschieden vom Landessozialgericht LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 05-06.2024 – L 5 AS 249/23 –

Was war passiert?

Die Klägerin litt seit mehr als 10 Jahren zunehmend mehr unter rezidivierenden depressiven Zuständen.Sie befand sich abwechselnd in stationärer und tagesklinischer Behandlung. Wegen der massiven Antriebslosigkeit sei die Klägerin nicht in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Das LSG gab der kranken Klägerin Recht.

Länger andauernde psychiatrische Erkrankung verbietet einen Umzug

Die attestierte Notwendigkeit eines Verbleibs in ihrer Wohnung aus psychischen Gründen sei nicht glaubhaft, so der Sozialhilfeträger, könne nicht gefolgt werden so das Landessozialgericht.

Denn auch im Rahmen des SGB XII gelten die Wohnkosten als angemessen, solange relevante Besonderheiten des Einzelfalls vorliegen. Dies kann auch bei einem Ablauf der Regelfrist von 6 Monaten der Fall sein (BSG, Urteil vom 6. Oktober 2022 – B 8 SO 7/21 R – ).

Das Bundessozialgericht hatte im Oktober 2022 wie folgt geurteilt

Liegen Besonderheiten (Krankheit, Behinderung, Pflegebedürftigkeit) vor, können tatsächliche Aufwendungen über das abstrakte Maß hinaus im Rahmen des § 35 Abs. 2 SGB XII a.F. angemessen sein und dem Leistungsberechtigten einen Verbleib in der Wohnung ermöglichen (BSG Urteil vom 06.10.2022 – B 8 SO 7/21 R – ).

Anmerkung

Wieder mal ein sehr gutes Urteil zu Gunsten der Antragstellerin, denn aufgrund ihrer langjährigen Erkrankung war ein Verbleib in ihrer Wohnung und ihrem Umfeld rechtlich möglich.

Diese BSG Entscheidung im Jahre 2022 hatte es in sich, denn führen – wie hier – die Beeinträchtigungen zu einer erheblichen Einschränkung oder sogar Verschlossenheit des Wohnungsmarkts, ist regelmäßig eine individuelle Hilfestellung des Leistungsträgers geboten, um eine Wohnung zu finden.

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Dieser BSG Entscheidung haben sich inzwischen viele Gerichte angeschlossen

1. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 28.02.2024 – L 2 SO 3252/22 –

1. Die beiden über siebzigjährigen chronisch kranken Klägern mit deutlicher Einschränkung der Mobilität und nachvollziehbarem Umzug in den Innenstadtbereich und Bestätigung des Gesundheitsamts, dass eine Erdgeschoßwohnung notwendig gewesen ist, haben Anspruch auf Übernahme ihrer tatsächlichen Miete bei Verschlossenheit des Wohnungsmarkts.

2. Bei Verschlossenheit des Wohnungsmarkts (Beschränkung auf Wohnungen im Erdgeschoss oder Parterre) muss der Sozialhilfeträger im Einzelfall die tatsächlichen Kosten der Unterkunft übernehmen (Anlehnung an BSG, Urteil vom 06.10.2022 – B 8 SO 7/21 R).

2. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13. Oktober 2023 – L 13 AS 185/23 B ER –

1. Jobcenter müssen für Schwerbehinderte, Pflegebedürftige oder Rollstuhlfahrer im Einzelfall höhere Mieten anerkennen, wenn der Wohnungsmarkt zu eng ist.

2. Höheren Kosten aufgrund der familiären Besonderheiten ( z. Bsp, wenn die Mutter den schwerbehinderten Sohn durch das Treppenhaus tragen muss ) führen im Einzelfall nicht zu – unangemessen Kosten der Unterkunft.

Hinweis für Bürgergeld – Bezieher SGB II

Diese Urteil, ergangen zum SGB XII, lässt sich anstandslos auf das Bürgergeld übertragen.

Denn: Liegen Besonderheiten ( Krankheit, Behinderung, Pflegebedürftigkeit ) vor, können tatsächliche Aufwendungen über das abstrakte Maß hinaus im Rahmen des § 35 Abs. 2 SGB XII a.F. angemessen sein und dem Leistungsberechtigten einen Verbleib in der Wohnung ermöglichen (BSG Urteil vom 06.10.2022 – B 8 SO 7/21 R -, zum SGB II: Urteil vom 21.07.2021 – B 14 AS 31/20 R – ).

Fazit

Unangemessene Kosten der Unterkunft und Heizung können im Einzelfall aufgrund der Besonderheiten wie ( Krankheit, Behinderung, Pflegebedürftigkeit ) länger als 6 Monate vom Jobcenter bzw. Sozialhilfeträger zu übernehmen sein und somit dem Hilfebedürftigen ein Verbleib in seiner Wohnung ermöglichen.

Welche Besonderheiten haben die Gerichte bis heute berücksichtigt

Wenn der Wohnungsmarkt eng ist, sie Besonderheiten des Einzelfalls aufweisen, wie Krankheit, Behinderung, Rollstuhl, Pflegebedürftigkeit, Beschränkung auf Wohnungen im Erdgeschoss oder Parterre aufgrund v. Krankheit, barrierefreie Wohnung aufgrund psychischer Störungen, eingeschränkte Mobilität wegen Krankheit u. Behinderung bei der Wohnungssuche, Schwierigkeiten beim Treppensteigen, wenn die Mutter den schwerbehinderten Sohn durch das Treppenhaus tragen muss, Störungen des Ganges – Merkzeichen G – und vielem mehr, (Einzelpunkte stammen alle aus den Urteilen zu diesem Thema) – können Sie im Einzelfall Anspruch auf Übernahme der tatsächlichen Miete haben.

Rechtstipp zum Bürgergeld speziell zu diesem Thema

BSG, Urteil v. 21.07.2021 – B 14 AS 31/20 R –

Tatsächliche Aufwendungen der Kosten der Unterkunft und Heizung können auch bei Bürgergeld-Empfängern auf Grund des Einzelfalls und seiner Besonderheiten dazu führen, dass der Leistungsempfänger in seiner Wohnung verbleiben kann oder bei einem Wohnungswechsel den verfügbaren angemessenen Wohnraum erweitern ( BSG, Urteil v. 21.07.2021 – B 14 AS 31/20 R – ).