Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat eine grundlegende Weiche fรผr getrennt erziehende Eltern gestellt: Wer mehr als 60 Prozent der tatsรคchlichen Kinderbetreuung leistet, gilt fรผr den Unterhaltsvorschuss als alleinerziehend.
Erreicht der andere Elternteil einen Betreuungsanteil von 40 Prozent oder mehr, schlieรt dies den Anspruch aus. Der Maรstab knรผpft allein an die real verbrachten Betreuungszeiten an โ ohne Gewichtung einzelner Tรคtigkeiten und ohne Rรผckgriff auf Kindergeldbezug, Umgangsvereinbarungen oder gemeinsames Sorgerecht.
Inhaltsverzeichnis
Der Fall: Mutter von Zwillingen gegen die Unterhaltsvorschusskasse
Ausgangspunkt war der Antrag einer Mutter auf Unterhaltsvorschuss fรผr ihre siebenjรคhrigen Zwillinge. Die Behรถrde lehnte ab: Die Kinder seien vierzehntรคgig von Mittwochnachmittag bis Montagmorgen beim Vater; die Mutter sei deshalb nicht alleinerziehend.
Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht folgten dem, stรผtzten sich u. a. auf das gemeinsame Sorgerecht und einen vom Gericht angenommenen Betreuungsanteil des Vaters von 36 Prozent. Das BVerwG hob diese Entscheidungen auf und verwies die Sache zur erneuten Sachverhaltsaufklรคrung zurรผck.
Der rechtliche Rahmen: โLebt bei einem Elternteilโ in ยง 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG
Anspruch auf Unterhaltsvorschuss hat ein Kind, das โbei einem seiner Elternteile lebtโ und von dem anderen Elternteil keinen oder unzureichenden Barunterhalt erhรคlt. Das BVerwG konkretisiert dieses โLeben beiโ seit jeher als auf Dauer angelegte hรคusliche Gemeinschaft, in der das Kind auch betreut wird.
Neu ist nun die klare quantitative Schwelle: Der Schwerpunkt der Betreuung muss โganz รผberwiegendโ beim antragstellenden Elternteil liegen โ das ist der Fall, wenn dessen Anteil รผber 60 Prozent betrรคgt. Umgekehrt liegt eine anspruchsausschlieรende wesentliche Entlastung vor, wenn der andere Elternteil 40 Prozent oder mehr รผbernimmt.
Die 60/40-Grenze: Ziel ist Rechtssicherheit statt Einzelfallabwรคgungen
Die Leipziger Richter betonen, dass die Schwelle Rechtssicherheit und Verwaltungsvereinfachung dient. Der Entlastungseffekt durch Mitbetreuung wird typisiert und allein zeitbezogen ermittelt.
Wertungen einzelner Betreuungsleistungen โ etwa โwer kocht, wer Hausaufgaben betreut, wer Arzttermine organisiertโ โ bleiben auรer Betracht. Maรgeblich sind ausschlieรlich die Zeiten, in denen sich das Kind in der Obhut des einen oder des anderen Elternteils befindet.
Wie Betreuungszeiten gezรคhlt werden: Tage, nicht Tรคtigkeiten
Fรผr die Praxis prรคzisiert das BVerwG, dass Betreuungsanteile รผber lรคngere Zeitrรคume zu bestimmen sind, nicht monatsweise. Bei ganztรคgig wechselnder Betreuung kommt es typisierend darauf an, wo sich das Kind zu Beginn des Tages aufhรคlt.
Diese gerichtlichen Leitlinien sind mittlerweile in die Verwaltungshinweise รผbernommen: Die Unterhaltsvorschuss-Richtlinien 2025 schreiben die rein zeitliche Ermittlung fest, erklรคren die 40-Prozent-Grenze und erlรคutern die Zรคhlweise einschlieรlich der Faustzahl von 146 Tagen Mitbetreuung im Zwรถlfmonatszeitraum.
Was ausdrรผcklich keine Rolle spielt: Kindergeld, Umgangspapiere, gemeinsames Sorgerecht
Der Bezug von Kindergeld sowie Umgangsvereinbarungen haben lediglich indizielle Bedeutung und kรถnnen durch die tatsรคchliche Betreuungspraxis widerlegt werden.
Dem Bestehen gemeinsamen Sorgerechts kommt grundsรคtzlich keine Bedeutung zu. Entscheidend bleibt, wo und wie lange das Kind tatsรคchlich betreut wird. Diese Linie entspricht sowohl dem Urteil als auch den aktualisierten Verwaltungsvorgaben.
Konsequenzen fรผr Eltern im Wechsel- und erweiterten Umgangsmodell
Eltern, die annรคhernd hรคlftig betreuen, kรถnnen kรผnftig klarer einschรคtzen, ob ein Unterhaltsvorschussanspruch besteht. Liegt der Mitbetreuungsanteil des barunterhaltspflichtigen Elternteils bei mindestens 40 Prozent, fehlt es an der erforderlichen Alleinerziehung.
Liegt er darunter, bleibt der Anspruch dem Grunde nach mรถglich, sofern die รผbrigen Voraussetzungen erfรผllt sind. In Grenzfรคllen entscheidet die belastbare, dokumentierte Zeitaufstellung รผber mehrere Monate.
Die Entscheidung im Ausgangsfall ist deshalb nicht abschlieรend, weil das BVerwG zur genaueren Feststellung der tatsรคchlichen Betreuungsanteile an das Oberverwaltungsgericht zurรผckverwiesen hat.
Entlastung des betreuenden Elternteils
Der Unterhaltsvorschuss ist Ausfall- bzw. รberbrรผckungsleistung, die die besondere Doppelbelastung alleinerziehender Eltern โ Betreuung plus Sicherung des Unterhalts โ abmildern soll. Die 60/40-Grenze rรผckt diesen Schutzzweck in den Mittelpunkt und grenzt die Fรคlle ab, in denen die Mitbetreuung des anderen Elternteils so stark ist, dass eine alleinerziehungsbedingte Notlage typischerweise nicht mehr besteht.
Praktische Hinweise fรผr die Antragstellung
Fรผr antragstellende Eltern bedeutet die Entscheidung: Entscheidend ist eine nachvollziehbare, รผber einen lรคngeren Zeitraum gefรผhrte Dokumentation der tatsรคchlichen Betreuungszeiten.
Ferienzeiten und ganztรคgige Wechsel gehรถren in die Rechnung; stundenweise Wechsel werden addiert und auf den Tag, dann auf das Jahr hochgerechnet. Umgangspapiere oder der Kindergeldbezug ersetzen diesen Nachweis nicht. Wer diese Anforderungen erfรผllt und mehr als 60 Prozent betreut, fรคllt in den Anwendungsbereich der Alleinerziehung nach dem UVG.
Fazit
Die Urteile 5 C 9.22 und 5 C 10.22 des Bundesverwaltungsgerichts bringen Klarheit in eine zuvor uneinheitlich gehandhabte Abgrenzung. Fรผr den Unterhaltsvorschuss zรคhlt die Zeit, nicht die Etiketten: Mehr als 60 Prozent Betreuung begrรผnden Alleinerziehung; ab 40 Prozent Mitbetreuung des anderen Elternteils entfรคllt der Anspruch.