Wer auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung verzichtet, dem darf das Sozialamt die Hilfe zum Lebensunterhalt grundsätzlich nicht versagen. Fehlt ein Antrag auf Grundsicherung oder ist er unwirksam, besteht kein Anspruch nach dem 4. Kapitel SGB XII – dann ist Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren. Das hat der 9. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen mit Beschluss vom 10.06.2025 (L 9 SO 71/25 B ER) klar gestellt.
Hintergrund des Falls: Von Grundsicherung auf Hilfe zum Lebensunterhalt umgestellt
Zunächst bewilligte das Sozialamt dem Antragsteller Grundsicherung nach dem SGB XII. Später stellte die Behörde auf Hilfe zum Lebensunterhalt um, weil weder die Altersgrenze des § 41 Abs. 2 SGB XII erreicht war noch eine dauerhafte volle Erwerbsminderung i. S. v. § 41 Abs. 3 SGB XII festgestellt wurde.
Daraufhin ersuchte die Behörde die Rentenversicherung nach § 45 SGB XII und forderte den Antragsteller mehrfach auf, an Ermittlungen zu seinem Gesundheitszustand mitzuwirken. Weil der Antragsteller dies – insbesondere wegen der Offenlegung medizinischer Daten und einer möglichen Begutachtung – ablehnte, versagte das Sozialamt die Hilfe zum Lebensunterhalt wegen angeblich fehlender Mitwirkung.
Klare Ansage des LSG NRW: Versagung war rechtswidrig
Das LSG folgte der Vorinstanz: Der Antragsteller hat Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt. Zwar geht die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung der Hilfe zum Lebensunterhalt grundsätzlich vor. Dieser Vorrang greift jedoch nur, wenn tatsächlich ein Anspruch auf Grundsicherung besteht.
Fehlt ein wirksamer Antrag auf Grundsicherung, ist Hilfe zum Lebensunterhalt zu leisten (vgl. BSG, Urteil vom 29.09.2009 – B 8 SO 13/08 R; Beschluss vom 27.07.2021 – B 8 SO 10/19 R).
Aufschiebende Wirkung: Widerspruch stoppt die Versagung
Der Widerspruch gegen den Versagungsbescheid entfaltet nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung. Unabhängig davon bewertete das Gericht den Bescheid als rechtswidrig. Ein Verstoß gegen Mitwirkungspflichten lag nicht vor.
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Bescheid prüfenKeine Pflicht, Grundsicherung zu beantragen – trotz § 19 Abs. 2 Satz 2 SGB XII
Trotz der Regelung in § 19 Abs. 2 Satz 2 SGB XII besteht keine Verpflichtung, Grundsicherung zu beantragen. Das ist in der Literatur zu § 41 SGB XII zwar umstritten, ergibt sich aber aus der Entstehungsgeschichte:
Die Grundsicherung wurde 2003 eingeführt, ab 2005 als 4. Kapitel in das SGB XII integriert, um mit dem Ausschluss des Unterhaltsrückgriffs verdeckte Altersarmut zu vermeiden.
Spätestens seit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz (12.12.2019) und der Ausweitung des Ausschlusses in § 94 Abs. 1a SGB XII auf alle Sozialhilfeleistungen ab 01.01.2020 ist eine eigenständige Grundsicherung hierfür nicht mehr erforderlich. Ziel war die Entlastung der Angehörigen, nicht die Schaffung zusätzlicher Erstattungsansprüche zwischen Trägern.
Antragserfordernis: Grundsicherung nur auf Antrag – kein Wechsel von Amts wegen
Nach § 44 Abs. 1 SGB XII wird Grundsicherung nur auf Antrag gewährt. Ob ein solcher Antrag gestellt wird, entscheidet allein der Leistungsberechtigte. Ein Wechsel von Hilfe zum Lebensunterhalt zur Grundsicherung erfolgt nicht von Amts wegen (BSG, Urteil vom 29.09.2009 – B 8 SO 13/08 R).
Damit bleibt es dem Betroffenen überlassen, auf Grundsicherung zu verzichten, wenn er keine Gesundheitsprüfung mit Offenlegung seiner medizinischen Daten und keine medizinische Begutachtung wünscht.
Fazit: Hilfe zum Lebensunterhalt muss weitergezahlt werden
Das Gericht hat im Eilverfahren zu Recht verpflichtet, die Hilfe zum Lebensunterhalt weiter zu zahlen. Der Versagungsbescheid war rechtswidrig. Für Betroffene bedeutet das: Kein Zwang zur Grundsicherungsbeantragung – und kein Verlust der Hilfe zum Lebensunterhalt allein wegen des Verzichts auf Grundsicherung und einer abgelehnten Gesundheitsprüfung.