Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg hat am 24. Juni 2025 (Az. L 11 SB 186/23) entschieden, dass ein zuvor nur mit einem Grad der Behinderung (GdB) 30 eingestufter Kläger bereits ab 28. Januar 2019 einen GdB 40 erhält. Ein GdB 50 lehnte das Gericht ab. Die Kernbotschaft: Wer mehrere Gesundheitsstörungen geltend macht, kann rückwirkend einen höheren GdB durchsetzen, wenn medizinische Gutachten dies belegen – selbst dann, wenn die Behörde zunächst nur Teilanerkenntnisse ausspricht.
Inhaltsverzeichnis
Was das LSG genau beschlossen hat
Das Gericht änderte das Urteil des Sozialgerichts Cottbus (18. April 2023) und hob den Bescheid des Versorgungsamts teilweise auf.
Es verurteilte die Behörde, den GdB schon ab 28. Januar 2019 mit 40 festzustellen, nicht erst ab Mai 2021, wie zuvor anerkannt.
Die von der Versorgungsbehörde beantragte Revision ließ das LSG nicht zu.
Ihr Nutzen: Sie können bei mehreren Einschränkungen eine rückwirkende Hochstufung verlangen, sofern fundierte Gutachten belegen, dass sich die Teilhabebeeinträchtigung bereits früher verschlimmert hat.
Darum ist das Urteil bedeutsam
- Präzisierung der Bewertungsmaßstäbe: Das LSG bestätigt, dass Gerichte nicht nur medizinische Fakten, sondern auch gesellschaftliche Teilhabefolgen bewerten müssen.
- Rückwirkende Wirkung: Ansprüche gelten ab dem Zeitpunkt, an dem sich die Einschränkungen nachweislich verschärft haben, nicht erst ab Antragstellung oder Begutachtung.
- Abgrenzung zu Erwerbsminderung: Ein höherer GdB bedeutet nicht automatisch volle Erwerbsminderung, weil unterschiedliche Rechtsgrundlagen gelten (SGB IX vs. SGB VI).
Wie Gesamt GdB 40 zustande kam
Das LSG stützte sich auf mehrere Fachgutachten:
Gesundheitsstörung | Einzel-GdB laut Gericht |
Wirbelsäulenschäden (HWS und LWS) mit Schmerzen | 30 |
Mittelgradige Depression | 30 |
Schlafapnoe-Syndrom | 20 |
Restless-Legs-Syndrom (umstritten) | 20 |
Schulterarthrose links | 10 |
Bluthochdruck | 10 |
Das Gericht wählte den höchsten Einzel GdB (30) als Ausgangswert und erhöhte ihn wegen der zusätzlichen Depression um einen 10er-Schritt auf 40. Weitere leichte bzw. mittelschwere Beeinträchtigungen führten nicht zu einer weiteren Steigerung, weil sie das Ausmaß der Gesamtbehinderung nicht „wesentlich“ verschlimmerten. Die Richter nutzten damit exakt die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) Teil A Nr. 3.
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Restless-Legs-Syndrom, Schlafapnoe und Depression – was zählt für die Bewertung?
Beim Restless-Legs-Syndrom (RLS) nutzt das Gericht mangels eigener Vorgaben die Bewertungsregeln für Hypersomnien. Da die teilhaberelevanten Folgen hier hauptsächlich in Schlafstörungen und ausgeprägter Tagesmüdigkeit liegen, halten die Richter höchstens einen Grad der Behinderung von 20 für gerechtfertigt.
Auch beim Schlafapnoe-Syndrom bleibt es in der Regel bei einem Einzel-GdB von 20. Die dauerhafte Behandlung mit einer CPAP-Maske reduziert das Gesundheitsrisiko spürbar, solange keine Organschäden am Herzen oder Gehirn hinzukommen.
Psychische Erkrankungen bewertet das Gericht differenziert. Eine mittelgradige Depression mit deutlicher Einschränkung im Alltag wird regelmäßig mit GdB 30 eingestuft. Erst schwere Verlaufsformen oder längere Versorgungslücken können 50 oder mehr Punkte rechtfertigen.
Welche Rechte können Sie jetzt geltend machen?
Sie haben Anspruch auf:
- Rückwirkende Feststellung: Liegen beweisbare Gesundheitsverschlechterungen vor, kann der höhere GdB bis zum Beginn dieser Phase zurückreichen.
- Steuer und Arbeitsplatzvorteile: Ein GdB 40 löst den Pauschbetrag von 1 260 € jährlich aus und ermöglicht ggf. einen leichteren Zugang zu Kündigungsschutz, Präventionsangeboten und Hilfsmitteln.
- Option auf Gleichstellung: Wer trotz GdB 40 schwerbehindertenrechtliche Vorteile im Arbeitsleben benötigt, kann sich nach § 2 Abs. 3 SGB IX gleichstellen lassen.
Praktische Tipps für Ihr Verfahren
Dokumentieren Sie jede Diagnose unmittelbar, denn Befunde aus Reha-Kliniken, Schlaflaboren oder Fachpraxen liefern schlagkräftige Beweise. Lassen Sie sich außerdem von Ihren behandelnden Ärztinnen oder Ärzten schriftlich bestätigen, ab wann die Einschränkungen bestehen; eine rückwirkende Anerkennung hängt oft genau an diesem Datum.
Nehmen Sie Teilanerkenntnisse nicht kommentarlos hin, sondern legen Sie Widerspruch ein, sobald Zeitraum oder Höhe des festgestellten GdB zu niedrig ausfallen. Wird die Lage strittig, nutzen Sie spezialisierte Gutachterverzeichnisse, um durch ein Privatgutachten nach § 109 SGG eine unabhängige Bewertung durchzusetzen.
Fristen und Formalien
Widerspruch gegen einen ablehnenden Bescheid: binnen eines Monats.
Klage beim Sozialgericht: ebenfalls ein Monat nach Widerspruchsbescheid.
Berufung: innerhalb eines Monats nach Urteilszustellung möglich, wenn der Streitwert über 750 € liegt oder das Gericht sie zulässt.
Versäumen Sie keine Termine, denn rückwirkende Nachzahlungen (z. B. Steuererstattung) hängen direkt davon ab.
Einordnung für Betroffene
Das Urteil zeigt, dass medizinische Detailarbeit und Hartnäckigkeit lohnen. Sie können strukturelle Benachteiligungen ausgleichen, wenn Sie stimmige Gutachten vorlegen und jede Teilhabeeinschränkung gezielt begründen. Gegenwehr der Versorgungsämter ist üblich, aber Gerichte korrigien zu niedrige Einschätzungen, sobald die Sachlage klar ist.
Ausblick
Mehrere Landessozialgerichte übertragen die strengen Teilhabekriterien des Bundessozialgerichts zunehmend konsequent auf Schlaf- und Schmerzstörungen. Fachanwälte erwarten daher, dass Restless-Legs und Schlafapnoe-Betroffene künftig häufiger höhere GdB erreichen – vorausgesetzt, die Symptome sind objektiv belegt und therapieresistent.