Einer Frau mit Down-Syndrom das Merkzeichen H bei Volljährigkeit zu entziehen, ist rechtswidrig. So entschied das Sozialgericht Karlsruhe in einem konkreten Fall und zeigte, wie entscheidend die Beurteilung des menschlichen Individuums ist. (S 11 SB 2572/18)
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Seit der Geburt Grad der Behinderung von 100
Die Betroffene kam 1999 mit Down-Syndrom zur Welt. Gleich nach der Geburt wurden bei ihr ein Grad der Behinderung von 100 und drei Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis festgestellt. Bei den Merkzeichen handelte es sich um G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), B (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson im ÖPNV) und H (Hilflosigkeit).
Kinder mit Down-Syndrom bekommen meist das Merkzeichen H
Für Kinder mit geistiger Behinderung kann Hilflosigkeit schon bei geringerem Hilfebedarf angenommen werden (Teil A Nr. 5 VMG). Mit 18 Jahren wird neu beurteilt – das Merkzeichen wird aber nicht automatisch entzogen. Die zuständige Behörde muss es nämlich in den Schwerbehindertenausweis eintragen, wenn eine geistige Behinderung eine ständige Überwachung aufgrund von Verhaltensstörungen möglich macht. Gewöhnlich gilt dies bis zum Erreichen der Volljährigkeit.
Menschen mit Down-Syndrom entwickeln sich unterschiedlich
Viele Menschen mit Down-Syndrom lernen Sprechen, Lesen und Schreiben und können mit Förderung in der Kindheit und Jugend als Erwachsene fast selbstständig leben. Andere Betroffene sind aber derart beeinträchtigt, dass sie viele Dinge nicht lernen und auch als Erwachsene immer viel Unterstützung benötigen.
Entzug des Merkzeichens H
Im April 2018 erklärte die zuständige Versorgungsbehörde laut Bescheid, die Voraussetzungen seien nicht mehr erfüll, um das Merkzeichen H festzustellen. Die Betroffene legte Widerspruch ein, und die Behörde wies diesen zurück. Deshalb klagte sie vor dem Sozialgericht, um das Merkzeichen zu behalten.
Richter beauftragen Gutachter
Die Richter beauftragten eine medizinische Gutachterin, um den Zustand der Betroffenen zu untersuchen. Diese Sachverständige hielt die Voraussetzungen für das Merkzeichen H nach wie vor für gegeben. Die Betroffene benötige wegen des Down-Syndroms bei allen Verrichtungen Überwachung oder Anleitung.
Hilflosigkeit ist nach wie vor gegeben
Die Richter nahmen das Gutachten nicht nur an, sondern erklärten selbst ausführlich, warum Hilflosigkeit nach wie vor gegeben sei. Zwar sei „eine wesentliche Änderung im Vergleich zu den Verhältnissen im Oktober 1999 dahingehend eingetreten, dass die Klägerin damals noch ein Säugling gewesen sei und nunmehr das 18. Lebensjahr erreicht habe. Das Erreichen der Volljährigkeit führe dazu, dass die (…) “Besonderheiten der Beurteilung der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen” nicht mehr zu berücksichtigen seien.“
Auch nach den allgemeinen gesetzlichen Vorschriften zum Nachteilsausgleich H bei Eintritt der Volljährigkeit seien die Voraussetzungen jedoch erfüllt. Die Betroffene habe aufgrund ihres Down-Syndroms Einschränkungen der feinmotorischen Fertigkeiten, ein erhebliches Sprach- und Sprechdefizit sowie Störungen im Sozialverhalten und einen Mangel an Gefahrenbewusstsein.
Ihr anerkannter Pflegegrad 3 erfasst schwere Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit. Ihre Behinderung bestehe weiterhin.
Kein Nachweis der Behörde
Die zuständige Behörde hätte keinen Nachweis gebracht, dass sich der Behinderungszustand wesentlich gebessert hätte. Dies gelte auch deshalb, weil ein Grad der Behinderung von 100 allein wegen Hirnschäden, Anfallsleiden oder geistiger Behinderung in der Regel das Merkzeichen H erfülle.
Grad der Behinderung von 100 wegen Down-Syndrom rechtfertigt allein Merkzeichen H
Bei der Betroffenen sei wegen des Down-Syndroms und eines operierten Herzfehlers ein Grad der Behinderung von 100 anerkannt, was allein zum Merkzeichen H berechtige. Der Behörde sei kein Nachweis gelungen, warum das Merkzeichen H wegen der Vermutungsregelung nicht mehr vorliege.
Was bedeutet das Urteil?
Die Richter machten klar, dass ein Entzug des Merkzeichens H nicht pauschal wegen Volljährigkeit erfolgen darf. Vielmehr muss anhand der individuellen Situation der Betroffenen geprüft werden, ob nach wie vor Hilflosigkeit besteht.