Jobcenter rechnet gepfändetes Einkommen an und kürzte Bürgergeld

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Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) in München hat mit Urteil vom 27. November 2024 (Az. L 11 AS 232/22) eine wichtige Leitentscheidung zur Behandlung gepfändeter Lohnanteile bei der Berechnung von Bürgergeld getroffen.

Nach Auffassung des Gerichts dürfen pfändbare Beträge, die im Rahmen einer Privatinsolvenz direkt an den Treuhänder bzw. Insolvenzverwalter abgeführt werden, nicht als Einkommen im Sinne von § 11 SGB II berücksichtigt werden. Denn sie stehen der Bedarfsgemeinschaft zu keinem Zeitpunkt tatsächlich zur Verfügung und stellen damit keine sogenannten „bereiten Mittel“ dar.

Für Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit in einer Restschuldbefreiungs- bzw. Wohlverhaltensphase leben und zugleich auf Bürgergeld angewiesen sind, setzt das Urteil eine klare Linie:

Nur Geld, das tatsächlich im Haushalt ankommt und frei verwendet werden kann, darf anspruchsmindernd angerechnet werden. Das korrigiert eine Praxis, die in der Vergangenheit immer wieder dazu geführt hat, dass Jobcenter Leistungen auf der Grundlage rein fiktiver Einkommensbeträge ablehnten.

Der Ausgangsfall

Eine alleinerziehende Mutter lebte mit ihren drei minderjährigen Kindern und ihrem Partner in einem gemeinsamen Haushalt. Der Partner war nicht Vater der Kinder, aber Teil der Bedarfsgemeinschaft nach dem SGB II.

Er war erwerbstätig und erzielte ein monatliches Nettoeinkommen, das – isoliert betrachtet – oberhalb des Bürgergeld-Bedarfs lag. Zugleich befand er sich jedoch in der Wohlverhaltensphase eines laufenden Privatinsolvenzverfahrens. Gemäß § 287 Abs. 2 Insolvenzordnung (InsO) hatte er seine pfändbaren Lohnanteile an den Treuhänder abgetreten.

Der über den Pfändungsfreigrenzen liegende Teil seines Nettoeinkommens wurde daher vom Arbeitgeber einbehalten und unmittelbar an den Treuhänder überwiesen, ohne jemals das Konto der Familie zu erreichen.

Dennoch legte das Jobcenter bei der Berechnung des SGB-II-Anspruchs das volle Nettoeinkommen zugrunde – also inklusive jener gepfändeten Beträge, die wegen der Abtretung zwingend an den Treuhänder flossen. Den pfändbaren Anteil behandelte die Behörde so, als stünde er der Familie tatsächlich zur Verfügung.

Die Folge war die vollständige Ablehnung des Leistungsantrags: Nach Ansicht des Jobcenters überstieg das unterstellte Einkommen den Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft, Hilfebedürftigkeit liege deshalb nicht vor.

Erst das Sozialgericht Bayreuth und in der Berufung das LSG München korrigierten diese Sichtweise und bestätigten, dass der Familie im überwiegenden Teil des streitigen Zeitraums Leistungen zustanden.

Bürgergeld, Insolvenz und Pfändungsfreigrenzen

Um die Brisanz der Entscheidung zu verstehen, lohnt ein Blick auf den rechtlichen Rahmen. Im Bürgergeld-System nach dem SGB II gilt: Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts hat nur, wer hilfebedürftig ist, seine Bedarfe also nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen decken kann. Einkommen ist nach § 11 SGB II alles, was jemand in Geld erhält, abzüglich bestimmter Absetzbeträge. Gleichzeitig schreibt das Gesetz vor, dass bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, auch das Einkommen von Partnerinnen und Partnern zu berücksichtigen ist.

Parallel dazu steht das Insolvenzrecht: Wer ein Restschuldbefreiungsverfahren durchläuft, ist in der Wohlverhaltensphase verpflichtet, sämtliche pfändbaren Bestandteile seines Arbeitseinkommens an den Treuhänder abzutreten.

Grundlage sind § 287 Abs. 2 InsO und die Pfändungsvorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO), insbesondere §§ 850 ff. ZPO. Die Pfändungsfreigrenzen legen fest, welcher Mindestbetrag dem Schuldner zur Sicherung seines Lebensunterhalts verbleiben muss; alles darüber hinaus kann – innerhalb festgelegter Grenzen – an Gläubiger abgeführt werden.

In der Praxis läuft dies häufig über ein Pfändungsschutzkonto (P-Konto). Bis zu einem bestimmten Freibetrag – zum Zeitpunkt der Berichterstattung liegt er bei rund 1.560 Euro, zuzüglich möglicher Erhöhungen für Unterhaltsverpflichtungen – ist das Guthaben des Kontos vor Zugriffen geschützt. Einkommen, das darüber hinausgeht, ist pfändbar und kann direkt an den Treuhänder abgeführt werden.

Genau diese Konstellation lag im entschiedenen Fall vor: Der Partner der Mutter erzielte zwar einen Lohn, der rechnerisch über dem Regelbedarf lag, der pfändbare Anteil gelangte aber – kraft gesetzlicher Abtretung – nie in die Hand der Bedarfsgemeinschaft.

Der Grundsatz der „bereiten Mittel“

Im Zentrum der Entscheidung steht der sozialrechtliche Grundsatz der „bereiten Mittel“. Dahinter steht die einfache, aber folgenreiche Überlegung: Als Einkommen im Sinne des SGB II kann nur das berücksichtigt werden, was den Leistungsberechtigten tatsächlich zur Deckung ihres Lebensunterhalts zur Verfügung steht.

Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) betont seit Jahren, dass nur ein „wertmäßiger Zuwachs“, der tatsächlich für die laufenden Bedarfe eingesetzt werden kann, Hilfebedürftigkeit mindert.

Das LSG übernimmt diese Linie konsequent. Es stellt ausdrücklich fest, dass die an den Treuhänder abgeführten pfändbaren Lohnanteile kein Einkommen darstellen, weil sie zu keinem Zeitpunkt im Verfügungsbereich der Bedarfsgemeinschaft ankommen.

Der pfändbare Betrag wird bereits vor der Auszahlung vom Arbeitgeber einbehalten. Auf dem Konto des Schuldners erscheint lediglich der nach Abzug der Pfändung verbleibende Nettolohn.

Damit fehlt es sowohl an einem tatsächlichen Zufluss als auch an der freien Verfügbarkeit. Das Gericht betont, dass es gerade nicht darauf ankommt, wem das Geld rechtlich im abstrakten Sinne zugeordnet wird, sondern ob es im Alltag genutzt werden kann, um Miete, Strom, Lebensmittel und andere existenzsichernde Ausgaben zu finanzieren.

In der Konsequenz verwirft das LSG die vom Jobcenter praktizierte Konstruktion eines fiktiven Einkommens: Beträge, die der Schuldner kraft zwingender Abtretungserklärung nie erhält, dürfen nicht so behandelt werden, als könnte er damit Hilfebedürftigkeit vermeiden.

Bürgergeld und Kredite: Was als Einkommen zählt

In der Beratungspraxis hat sich eine einprägsame Formel eingebürgert: „Kredit ist kein Einkommen.“ Gemeint ist damit, dass echte Darlehen, die ernsthaft zurückzuzahlen sind, die wirtschaftliche Lage langfristig nicht verbessern und daher grundsätzlich nicht wie Einkommen zu behandeln sind.

Das LSG verweist in seiner Entscheidung auf ein Urteil des Bundessozialgerichts, das ein Arbeitgeberdarlehen zum Gegenstand hatte, und macht deutlich, dass diese Konstellation von einer Lohnpfändung im Insolvenzverfahren zu unterscheiden ist.

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In beiden Fällen geht es aber um die Frage, ob ein realer Zuwachs zur Verfügung steht oder ob lediglich rechnerisch ein Betrag existiert, der durch Rückzahlungsverpflichtungen oder gesetzliche Abtretungen sofort wieder gebunden ist.

Die Entscheidung aus München schärft damit den Blick für das materielle Kriterium der tatsächlichen Verfügbarkeit: Nur was im Haushalt ankommt und nicht bereits rechtlich verplant ist, darf bei der Bürgergeld-Berechnung anspruchsmindernd berücksichtigt werden.

Keine Pflicht zur „Selbstbefreiung“ aus der Pfändung

Besonders deutlich setzt sich das Gericht mit dem Argument des Jobcenters auseinander, der Kläger habe im Rahmen seiner Mitwirkungspflichten mehr tun müssen, um den gepfändeten Lohnanteil für die Familie „freizubekommen“.

Die Behörde hatte sinngemäß vorgetragen, der Schuldner hätte gegen die Pfändung vorgehen oder bei Gericht eine Erhöhung des pfändungsfreien Betrags beantragen müssen. Andernfalls verletze er seine Selbsthilfeobliegenheit, die im Sozialrecht verlangt, dass Leistungsberechtigte in zumutbarem Umfang alles ihnen Mögliche tun, um Hilfebedürftigkeit zu vermeiden.

Das LSG weist diese Argumentation aus mehreren Gründen zurück:
Erstens macht es deutlich, dass die Abtretung der pfändbaren Forderungen nach § 287 Abs. 2 InsO eine zwingende Voraussetzung für die Restschuldbefreiung ist.

Wer die pfändbaren Teile seines Arbeitseinkommens nicht an den Treuhänder abtritt, gefährdet das gesamte Insolvenzverfahren. Eine „Rücknahme“ dieser Abtretung ist rechtlich nicht vorgesehen. Dem Schuldner war es also objektiv unmöglich, die Pfändung schlicht zu beseitigen.

Zweitens verweist das Gericht auf § 850f Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Diese Vorschrift erlaubt zwar grundsätzlich eine Erhöhung des Pfändungsfreibetrags, wenn der notwendige Lebensunterhalt des Schuldners oder von Personen, denen er gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet ist, sonst nicht gedeckt wäre. Im entschiedenen Fall bestand jedoch – zum maßgeblichen Zeitpunkt – keine zivilrechtliche Unterhaltspflicht gegenüber der Partnerin und ihren Kindern, weil das Paar noch nicht verheiratet war. Erst später kam es zur Eheschließung.

Drittens arbeitet das LSG heraus, dass vertragliche oder faktische Unterhaltsleistungen innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft nach SGB II für die pfändungsrechtliche Prüfung gerade nicht zählen.

Der Gesetzgeber knüpft im Zwangsvollstreckungsrecht an andere Anknüpfungspunkte an als im Sozialrecht. Das bedeutet: Selbst wenn der Partner de facto für den Lebensunterhalt der Familie mit aufkommt, erhöht dies nicht automatisch seinen Pfändungsfreibetrag.

Vor diesem Hintergrund kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Kläger keine realistische rechtliche Möglichkeit hatte, den gepfändeten Lohnanteil zugunsten der Bedarfsgemeinschaft freizusetzen. Ihm einen Verstoß gegen Mitwirkungspflichten vorzuwerfen, sei daher unzulässig.

Widerspruch zur eigenen Verwaltungspraxis der Jobcenter

Bemerkenswert ist eine weitere Aussage des Urteils: Das LSG weist darauf hin, dass die vom Jobcenter vertretene Rechtsauffassung nicht nur mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung unvereinbar ist, sondern auch den eigenen Verwaltungsvorschriften widerspricht.

In den fachlichen Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit finden sich Berechnungsbeispiele, die ausdrücklich davon ausgehen, dass bei einer Tilgung von Schulden durch Pfändung von Arbeitseinkommen nur die tatsächlich ausgezahlten Beträge als Einkommen zu berücksichtigen sind. Das Gericht verweist auf eine entsprechende Beispielrechnung in der Wissensdatenbank der Bundesagentur.

Mit anderen Worten: Das Jobcenter wich von der Linie ab, die seine eigene übergeordnete Behörde für verbindlich erklärt hatte. Das LSG stellt klar, dass eine derartige Abweichung nicht zulasten der Leistungsberechtigten gehen darf.

Konsequenzen für Bürgergeld-Beziehende und Jobcenter

Die Entscheidung hat über den Einzelfall hinaus praktische Wirkung. Für Betroffene mit laufender Lohnpfändung oder Privatinsolvenz bedeutet sie:

Jobcenter dürfen nur jene Beträge als Einkommen anrechnen, die tatsächlich auf dem Konto der Bedarfsgemeinschaft eingehen und zur freien Verfügung stehen. Pfändbare Lohnanteile, die aufgrund einer Abtretung an den Treuhänder direkt vom Arbeitgeber abgeführt werden, sind bei der Einkommensanrechnung außen vor.

In der Folge können sich in der Vergangenheit erlassene Bescheide als rechtswidrig erweisen, wenn Jobcenter die gepfändeten Teile des Einkommens dennoch berücksichtigt haben.

Für Betroffene kann es sich lohnen, frühere Bescheide prüfen zu lassen und gegebenenfalls Widerspruch oder einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X zu stellen. Fachportale und Beratungsstellen weisen bereits darauf hin, dass das Urteil als Orientierung für ähnliche Fälle dienen kann.

Auch für die Verwaltungspraxis der Jobcenter ergibt sich Handlungsbedarf. In jedem Fall, in dem eine Lohnpfändung oder ein Restschuldbefreiungsverfahren eine Rolle spielt, müssen die Mitarbeitenden künftig genau prüfen, welche Beträge tatsächlich fließen. Maßgeblich sind Lohnabrechnungen, Kontoauszüge und Bescheide des Insolvenzgerichts beziehungsweise des Treuhänders.

Einordnung

Das Urteil des LSG Bayern fügt sich in eine Linie sozialgerichtlicher Rechtsprechung ein, die den Schutz des Existenzminimums ernst nimmt und fiktiven Anrechnungen eine Absage erteilt.

Die Entscheidung zeigt, dass das Sozialrecht nicht losgelöst vom Insolvenzrecht betrachtet werden kann: Wer seine Restschuldbefreiung anstrebt und deshalb pfändbare Einkommensteile an den Treuhänder abtreten muss, darf sozialrechtlich nicht so behandelt werden, als könne er über dieses Geld frei verfügen.

Was in internen Handreichungen der Verwaltung steht, gilt nicht nur „auf dem Papier“, sondern kann im Zweifel auch vor Gericht eingefordert werden.

Auch wenn sich die Rahmenbedingungen des Bürgergelds in den kommenden Jahren verändern mögen, bleibt eine Erfahrung aus diesem Verfahren besonders wichtig:

Bei der Frage, ob jemand hilfebedürftig ist, darf nur das berücksichtigt werden, was im wirklichen Leben verfügbar ist. Schulden, Pfändungen und rechtlich gebundene Beträge dürfen nicht dazu führen, dass Menschen formell als „nicht hilfebedürftig“ gelten, obwohl ihnen das für ein menschenwürdiges Existenzminimum notwendige Geld tatsächlich fehlt.