Schwerbehinderung: Anfechtung des Arbeitsvertrags scheitert oft

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Ein Arbeitsvertrag lรคsst sich selten erfolgreich anfechten, wenn die Schwerbehinderung des Mitarbeiters bei Vertragsabschluss klar zu erkennen war.

Diese Erkenntnis geht auf eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zurรผck, die Arbeitgebern enge Grenzen bei der Anfechtung setzt. Damit sollen Betroffene mehr Sicherheit erlangen und unberechtigte Kรผndigungen vermeiden.

รœberblick: Worum es geht

Menschen mit einer Schwerbehinderung treffen bei Einstellungsgesprรคchen hรคufig auf sensible Fragen zum Gesundheitszustand. Viele Personalabteilungen fragen nach Einschrรคnkungen, um spรคtere Ausfรคlle oder Anpassungsbedarfe besser einschรคtzen zu kรถnnen.

Doch wenn die Behinderung bereits deutlich sichtbar ist, kommt es rechtlich zu einem entscheidenden Punkt:

Ein Arbeitgeber kann sich dann nicht darauf berufen, getรคuscht worden zu sein, wenn die Bewerberin oder der Bewerber โ€žNeinโ€œ auf die Frage nach der Schwerbehinderung ankreuzt.

Das Bundesarbeitsgericht entschied 2000 in einem bekannten Fall (Az.: 2 AZR 380/99), dass die Unrichtigkeit der Antwort nicht automatisch eine Anfechtung rechtfertigt.

Diese Klarstellung ermรถglicht es Beschรคftigten, ihre Rechte besser zu verteidigen, wenn Vorwรผrfe รผber angebliche Tรคuschung im Raum stehen. Sie profitieren zudem von einem sichereren Arbeitsverhรคltnis, da Arbeitgeber nicht ohne Weiteres rรผckwirkend den Vertrag beenden kรถnnen.

Umgekehrt sollten Unternehmen wissen, unter welchen Voraussetzungen sie doch eine Anfechtung erwรคgen dรผrfen.

Hintergrund: Der Rechtsstreit vor dem Bundesarbeitsgericht

Ein IT-Dienstleister beschรคftigte einen Arbeitnehmer seit November 1997 fรผr den technischen Support. Beim Einstellungsgesprรคch musste dieser einen Personalfragebogen ausfรผllen, in dem ausdrรผcklich nach einer Schwerbehinderung gefragt wurde.

Er verneinte den Punkt. Tatsรคchlich lag jedoch bereits ein Bescheid des Versorgungsamts vor, der einen Grad der Behinderung von 100 auswies. Dieser beruhte auf einem angeborenen Minderwuchs mit erheblichen Funktionseinschrรคnkungen.

Die Firma kรผndigte spรคter fristlos. Als der Mitarbeiter kurz darauf seine Schwerbehinderung geltend machte, sah sich der Arbeitgeber in die Irre gefรผhrt. Er fechte den Arbeitsvertrag an, weil die Frage nach der Schwerbehinderung angeblich falsch beantwortet worden sei.

Allerdings war nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts offensichtlich, dass die kรถrperliche Einschrรคnkung des Mitarbeiters nicht zu รผbersehen war. Deshalb habe kein Irrtum รผber wesentliche Vertragsgrundlagen vorgelegen. Das Bundesarbeitsgericht schloss sich dieser Sichtweise an.

Damit blieb der Anfechtungsversuch erfolglos. Der Kรผndigungsschutz des schwerbehinderten Arbeitnehmers griff. Letztlich ging das Arbeitsverhรคltnis nach juristischem Ringen weiter, da die Arbeitgeberseite ihre fristlose Kรผndigung zurรผcknahm.

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Rechtlicher Kern: Tรคuschung setzt Irrtum voraus

Grundlage fรผr die Anfechtung eines Arbeitsvertrags ist im Regelfall ein โ€žIrrtumโ€œ der Arbeitgeberin oder des Arbeitgebers. Wer arglistig getรคuscht wird, kann den Vertrag anfechten, weil die Einwilligung in den Vertragsabschluss auf unzutreffenden Vorstellungen beruht.

Bei einer Schwerbehinderung spielt diese Irrtumsvoraussetzung eine besondere Rolle. Denn ein โ€žoffenbares Handicapโ€œ ist laut Bundesarbeitsgericht fรผr das Unternehmen nicht zu leugnen, sobald es jederzeit erkennbar ist. So ist eine falsche Angabe zwar objektiv falsch, fรผhrt aber nicht automatisch zu einem rechtserheblichen Irrtum.

Wesentliche Punkte aus dem Urteil (stark verkรผrzt und paraphrasiert):
Arbeitgeber dรผrfen einen Bewerber nur dann wegen falscher Angaben zur Behinderung belangen, wenn sie ohne die Falschaussage nicht gewusst hรคtten, dass eine Schwerbehinderung vorliegt.

Ist die Behinderung offensichtlich, scheidet ein wirksamer Irrtum weitgehend aus. Die Anfechtung des Arbeitsvertrags wegen arglistiger Tรคuschung setzt zwingend voraus, dass der Arbeitgeber tatsรคchlich auf die Falschangabe vertraut hat.

Diese Aspekte verdeutlichen, dass Unternehmen sorgfรคltig abwรคgen sollten, ob eine Behinderung wirklich unbemerkt blieb oder ob die kรถrperlichen Merkmale eine klare Sprache sprachen.

Praktischer Nutzen: Was Arbeitnehmende wissen sollten

Sie kรถnnen rechtssicherer agieren, wenn ihnen kรถrperliche Einschrรคnkungen bereits anzusehen sind. In vielen Situationen entsteht Unsicherheit, weil Arbeitgebende den Personalfragebogen nutzen, um sich abzusichern. Doch wenn die Behinderung eindeutig erkennbar ist, besteht fรผr Sie als Beschรคftigte eher ein Schutzmechanismus:

Eine nachtrรคgliche Anfechtung hat kaum Aussicht auf Erfolg. Das stรคrkt Ihre Position, falls Streit um eine vermeintlich verschleierte Schwerbehinderung aufkommt.

Allerdings sollten Sie auch wissen, dass die unzutreffende Verneinung einer Behinderungsfrage nicht grundsรคtzlich empfohlen wird. Im besten Fall offenbaren Sie Ihre gesundheitliche Situation, wenn diese fรผr den Job relevant sein kรถnnte (etwa bei gefรคhrlichen Tรคtigkeiten oder speziellen Sicherheitsanforderungen).

Gerade bei Sicherheitsberufen oder Stellen mit hohen kรถrperlichen Anforderungen kรถnnte das Thema entscheidende Bedeutung haben.

Unternehmensperspektive: Worauf Arbeitgeber achten sollten

Als Arbeitgeber mรถchten Sie eventuell frรผhzeitig erfahren, ob besondere Vorkehrungen am Arbeitsplatz erforderlich sind. Eine wahrheitsgemรครŸe Angabe zur Schwerbehinderung kann Ihnen helfen, angemessene MaรŸnahmen zu planen und den gesetzlichen Pflichten nachzukommen.

Gleichzeitig sind Sie verpflichtet, einen diskriminierungsfreien Einstellungsprozess zu gewรคhrleisten. Beachten Sie daher:

  1. Einschรคtzung kรถrperlicher Einschrรคnkungen
    Prรผfen Sie, ob eine offensichtliche Behinderung vorliegt, bevor Sie die Angaben aus einem Personalfragebogen als maรŸgebend einstufen.
  2. MaรŸnahmen des Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM)
    Planen Sie frรผhzeitig, wie Sie den Arbeitsplatz anpassen. Das kann Ihnen helfen, teure Fehlzeiten zu reduzieren.
  3. Rechtssicherheit durch Beratung
    Ziehen Sie Fachleute hinzu, um Ihr Vorgehen rechtlich abzusichern. Gerade in komplexen Fรคllen lohnt sich eine Abstimmung mit Rechtsberaterinnen oder Rechtsberatern.

Wenn Sie sich blind auf falsche Aussagen verlassen, sollten Sie immer prรผfen, ob diese im konkreten Fall wirklich die Entscheidung รผber die Einstellung beeinflusst haben. Nur dann hรคtten Sie รผberhaupt eine Chance, die Anfechtung durchzusetzen.

Weiterfรผhrender Kontext: Auswirkungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)

Heute regelt das AGG viele Fรคlle der Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen. Arbeitgeber mรผssen sehr sensibel mit Fragen zur Gesundheit umgehen, weil eine Diskriminierung zu Abmahnungen oder Entschรคdigungsforderungen fรผhren kann.

Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts ist zwar vor Inkrafttreten des AGG ergangen, harmoniert aber in seinem Grundsatz mit der spรคteren Gesetzeslage. Fรผr Beschรคftigte bedeutet das noch mehr Schutz vor ungerechtfertigten Kรผndigungen und hรถhere Hรผrden fรผr Arbeitgeber, die eine getรคuschte Vertragsanbahnung beklagen.