15.06.2012
Die Beteiligten streiten – nach der Rücknahme der Klage durch die Ehefrau des Klägers mit Schriftsatz vom 25. Juli 2011 noch – über die Rechtmäßigkeit des Ausschlusses des Klägers von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II Hartz IV) für die erste Zeit seines Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland vom 01. Oktober 2010 bis zum 29. November 2010.
Der am November 1975 geborene Kläger ist Staatsangehöriger der Republik Serbien und seit dem 21. Mai 2010 mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet. Er reiste am 30. August 2010 in die Bundesrepublik Deutschland ein; ausweislich des entsprechenden 90 Tage gültigen Visums vom 30. August 2010 erfolgte die Einreise zum Familiennachzug, wobei die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gestattet war. Am 01. Oktober 2010 stellten der Kläger und seine Ehefrau beim Beklagten einen Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 26. Oktober 2010 bewilligte der Beklagte für den Zeitraum 01. Oktober 2010 bis zum 29. November 2010, in dem der Kläger und seine Ehefrau mietfrei bei Bekannten wohnten, lediglich der Ehefrau des Klägers eine monatliche Regelleistung von 323,- EUR (anteilig für den Zeitraum vom 01. – 29. November 2010 in Höhe von 312,23 EUR).
Gegen diesen Bewilligungsbescheid legte der Kläger am 10. November 2010 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er unter anderem aus, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II nicht eingreife.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16. November 2010 (W 4/10) zurück und führte insoweit aus, dass nach der gesetzlichen Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II während der ersten drei Monate nach der Einreise grundsätzlich jeder Ausländer vom Leistungsbezug ausgeschlossen sei. Insbesondere sei der Kläger weder Arbeitnehmer, noch Selbständiger oder aber aufgrund von § 2 Abs. 3 FreizügigG/EU freizügigkeitsberechtigt. Da die Verwaltung gemäß Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) an das Gesetz gebunden sei, komme eine darüber hinausgehende Leistungsgewährung nicht in Betracht.
Mit der am 20. Dezember 2010 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren, die Bewilligung von Leistungen für den Zeitraum vom 01. Oktober 2010 bis 29. November 2010, mithin auch im Zeitraum der ersten drei Monate seines Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland, weiter. Er meint, der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II sei in Umsetzung von Art. 24 Abs. 2 Unionsbürgerrichtlinie lediglich auf Unionsbürger anwendbar und nicht auf ihn, da er im Besitz eines Aufenthaltstitels zur Familienzusammenführung gewesen sei.
Urteil:
Gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) konnte das Gericht im Einverständnis mit den Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) ist begründet. Der Bescheid vom 26. Oktober 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. November 2010 (W 8594/10) ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat für die Zeit vom 01. Oktober 2010 bis 29. November 2010 einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II.
Die Kammer konnte über die Klage durch Grundurteil entscheiden. Gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG kann zur Leistung dem Grunde nach verurteilt werden, wenn eine Leistung in Geld begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht, § 54 Abs. 4 SGG (vgl. etwa BSG, Urt. v. 21.12.2009 – B 14 AS 61/08 R, Rn. 5 und 9, juris).
Der Kläger hat einen Anspruch auf Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit vom 01. Oktober 2010 bis zum 29. November 2010. Er ist Leistungsberechtigter im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist leistungsberechtigt, wer das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht hat, erwerbsfähig und hilfebedürftig ist sowie einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat. Diese Voraussetzungen liegen vor. Dem im streitgegenständlichen Zeitraum 34 bzw. 35 Jahre alten Kläger war aufgrund seines Aufenthaltstitels die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt, so dass er im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz1 Nr. 2 i.V.m. § 8 Abs. 1 und 2 SGB II erwerbsfähig war. Ferner war der Kläger auch hilfebedürftig, denn weder er noch seine gemäß § 1360 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) unterhaltspflichtige Ehefrau erzielten im streitgegenständlichen Zeitraum Einkommen; Vermögen besaß der Kläger nicht. Seit dem 30. August 2010 hat der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und wohnt in Berlin.
Der Kläger ist nicht vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Ein Leistungsausschluss ergibt sich nicht aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II, wonach Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbständige noch auf Grund von § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthaltes von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind. Denn zur Überzeugung der Kammer ist der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II nicht bei einem Familiennachzug zu dem Ehegatten mit deutscher Staatsangehörigkeit anwendbar (vgl. auch SG Berlin, Urt. v. 18.04.2011 – S 201 AS 45186/09 und SG Nürnberg, Urt. v. 26.08.2009 – S 20 AS 906/09; ähnlich aber im Ergebnis offen gelassen LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 07.12.2009 – L 19 B 363/09 AS, Rn. 6f.; a.A. SG Duisburg, Beschl. v. 19.11.2009 – S 31 AS 414/09 ER, Rn. 25ff.; SG Stuttgart, Beschl. v. 24.03.2011 – S 24 AS 1359/11 ER, Rn. 31ff. und nachfolgend LSG Baden-Württemberg, Beschl. v. 27.04.2011 – L 3 AS 1411/11 ER-B, Rn. 3f.; juris).
Ausgehend vom Regelungszweck der Norm des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II und unter Berücksichtigung der Schutzfunktion des Art. 6 Abs. 1 GG wird der Kläger nicht von dem Leistungsausschluss erfasst.
Das SG Nürnberg hat zum Regelungszweck des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II folgendes ausgeführt (a.a.O, Rn. 36): Aus dem Regelungszusammenhang mit § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II und dem Wortlaut der Vorschrift wird erkennbar, dass der Leistungsausschluss Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft erfassen soll, die aus einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, der nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, und seinen Angehörigen gebildet werden (siehe dazu auch BT-Drs. 16/5065, 234). Der Kläger gehört jedoch zu einer Bedarfsgemeinschaft, deren Anknüpfungspunkt seine erwerbsfähige, hilfebedürftige Ehefrau, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, bildet. Auch die Gesetzeshistorie und der Regelungszweck des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II sprechen dafür, dass Familienangehörige deutscher Erwerbs-fähiger nicht von dem Leistungsausschluss erfasst werden. Nach der bis zum 27.08.2007 gültigen Fassung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II waren vom Leistungsanspruch ausgenommen Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, ihre Familienangehörigen sowie Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes. Die Vorschrift ist wortgleich in § 7 Abs. Satz 2 Nr. 2 u. 3 SGB II übernommen worden. Nach der Begründung des Gesetzgebers (BT-Drs. 16/5065, 13) sollten von der Regelung, die auf arbeitsuchende Ausländer und ihre Familienangehörigen zugeschnitten war, nicht Bürger erfasst werden, die als Familienangehörige eines Deutschen in die Bundesrepublik Deutschland einreisen. Am 28.08.2007 trat § 2 Abs. 5 Freizügigkeitsgesetz/EU in Kraft. Danach können sich Unionsbürger und ihre Familienangehörigen für drei Monate ohne besonderes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Da solche Unionsbürger vom Wortlaut des bisher gültigen § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht erfasst wurden, hat der Gesetzgeber mit Wirkung zum 28.08.2007 den Tatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II durch das Gesetz zur Umsetzung von aufenthalts- und asylrechtlichen Richtlinien der Europäischen Union neu geschaffen. Er hat dabei von der Option des Artikels 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Rates vom 29.04.2004 Gebrauch gemacht. Danach ist ein aufnehmender Mitgliedsstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Abs. 4 Buchstabe b einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren. Zielsetzung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II ist es somit sicherzustellen, dass EU-Bürger und ihre Familienangehörigen auch in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland keine Ansprüche nach dem SGB II geltend machen können (vgl. BT-Drs. 16/5065). Nicht bezweckt ist dagegen, abweichend von der bis zum 27.08.2007 gültigen Gesetzeslage nunmehr auch Familienangehörige deutscher erwerbsfähiger Hilfebedürftiger in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts von Leistungen nach dem SGB II auszuschließen.
Diesen Ausführungen schließt sich die Kammer nach eigenständiger Prüfung der Rechtslage an und macht sie sich zu eigen.
Darüber hinaus ist die Kammer der Auffassung, dass neben dem Regelungszweck auch die Schutzfunktion des Art. 6 Abs. 1 GG zu berücksichtigen ist. Das SG Berlin hat diesbezüglich bereits folgendes ausgeführt (a.a.O., Rn. 28ff.): ( ) ist § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II verfassungskonform im Lichte von Art. 6 Abs. 1 GG dahingehend auszulegen, dass im vorliegenden Fall der Leistungsausschluss nicht anwendbar ist. Gemäß Art. 6 Abs. 1 GG stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. ( ) Zwar begründet Art. 6 Abs. 1 GG keinen grundrechtlichen Anspruch von ausländischen Ehegatten auf Nachzug zu ihren legal in Deutschland lebenden Partnern ( ). Jedoch ist zu beachten, dass der Gesetzgeber sich für die Rechtmäßigkeit des Familiennachzuges in Fällen wie dem hier vorliegenden entschieden hat. Diese Grundentscheidung kann über den Leistungsausschluss nach dem SGB II nicht wieder rückgängig gemacht werden. ( ) Art. 6 Abs. 1 GG beinhaltet nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes "positiv die Aufgabe für den Staat, Ehe und Familie nicht nur vor Beeinträchtigungen durch andere Kräfte zu bewahren, sondern auch durch geeignete Maßnahmen zu fördern, und negativ das Verbot für den Staat selbst, die Ehe zu schädigen oder sonst zu beeinträchtigen". ( ) Die Verweigerung des Existenzminimums für drei Monate ist derart gravierend, dass ein Familiennachzug faktisch unmöglich gemacht wird. Der Familienangehörige kann nicht darauf verwiesen werden, erst nachzuziehen, wenn der bereits in Deutschland lebende Familienteil wegen der Aufnahme einer Tätigkeit wieder aus dem Leistungsbezug ausgeschieden ist. Zu bedenken ist dabei auch, dass der Rückhalt der Familie es dem bereits in Deutschland lebenden Ausländer erleichtern kann, den Weg in eine selbständige oder nichtselbständige Beschäftigung zu finden.
Auch diesen Ausführungen schließt sich die Kammer nach eigenständiger Prüfung der Rechtslage an und macht sie sich zu eigen.
Zur Überzeugung der Kammer ist darüber hinaus insbesondere die Funktion der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu beachten, nämlich die einfachgesetzliche Gewährleistung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG (vgl. dazu BVerfG, Urt. v. 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09, juris). Ließe man den Ausschluss des Klägers von diesen Leistungen zu, so wäre im Falle seiner und der Hilfebedürftigkeit seiner Ehefrau in den ersten drei Monaten seines Nachzugs zu seiner Ehefrau sein menschenwürdiges Existenzminimum nicht gesichert – dies würde den Familiennachzug rein faktisch dauerhaft (zumindest solange Hilfebedürftigkeit besteht) unmöglich machen, da andernfalls die Existenz des Klägers nicht gesichert wäre. Dies wiederum würde zur Überzeugung der Kammer einen nicht gerechtfertigten Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG darstellen, der auch das Interesse des deutschen Ehepartners schützt, seine Ehe als eine Lebensgemeinschaft gleichberechtigter Partner im Bundesgebiet fortzusetzen (BVerfG, Beschl. v. 18.07.1979 – 1 BvR 650/77, Rn. 32, juris). Insbesondere wäre ein solcher Eingriff zur Überzeugung der Kammer nicht aufgrund des Ziels der Begrenzung des Zuzugs von Ausländern und zum Schutz vor der Inanspruchnahme staatlicher Sozialleistungen durch Zuwanderer gerechtfertigt (so aber SG Stuttgart, a.a.O., Rn. 86); denn selbst wenn man darin zu berücksichtigende Allgemeinwohlbelange erkennen wollte, die der gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative unterlägen, so bleibt zu konstatieren, dass § 7 Abs.1 Satz 2 Nr. 1 SGB II ausweislich der obigen Ausführungen gerade nicht mit diesem Regelungszweck erlassen wurde. Der tatsächliche Regelungszweck des Leistungsausschlusses von EU-Bürgern in den ersten drei Monaten ihres – voraussetzungslosen – Aufenthalts ist indes zur Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 6 Abs. 1 GG bei einem Familiennachzug nicht geeignet. Somit ist aufgrund des Regelungszwecks und der Schutzfunktion des Art. 6 Abs. 1 GG zu konstatieren, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II keine Anwendung auf den Kläger findet, der im Wege des Ehegattennachzugs zu seiner deutschen Ehefrau in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist.
Die Klage hat damit vollumfänglich Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
Die Berufung war zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 144 Abs. 2 SGG). Die Frage, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II auch anwendbar ist, wenn ein Familiennachzug zu einem deutschen Ehegatten erfolgt, wirft Fragen grundsätzlicher Art auf, die bisher höchstrichterlich nicht geklärt ist. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass die Entscheidung dazu führen kann, die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern. (Urteil: SG Berlin, Az: S 173 AS 38287/10, noch nicht rechtsgültig)
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