Bürgergeld: Versagungsbescheid des Jobcenters gilt nicht für alle

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Versagungsbescheid des Jobcenters darf nur den seine Mitwirkung verweigernden Antragsteller betreffen – Wegweisendes Urteil
Wohl möglich sind viele Bürgergeld-Bescheide der Jobcenter rechtswidrig, denn Versagungsentscheidungen der Jobcenter sind nur an den Verursacher der Verletzung der Mitwirkungspflicht zu richten, aber nicht an den Rest der Bedarfsgemeinschaft.

Darf das Jobcenter einer 6- köpfigen Bedarfsgemeinschaft das gesamte Bürgergeld versagen, wenn lediglich die Mutter ihren Mitwirkungspflichten nicht nach kam?

LSG Niedersachsen – Bremen: Grundsätzlich NEIN, denn aus dem Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft folgt nicht, dass eine Versagungsentscheidung auch gegenüber Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft zulässig wäre, die in eigener Person Mitwirkungspflichten nicht verletzt haben.

Eine Versagungsentscheidung des Jobcenters – ist nicht gegenüber Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft – zulässig, so aktuell eine Entscheidung des 13. Senats des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen ( Urteil vom 08.10.2025 – L 13 AS 241/23 – ) Die Revision wurde zugelassen.

Keine Versagung von Bürgergeld bei Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft, welche ihre Mitwirkungspflicht nicht verletzt haben – Wegweisende Entscheidung

§ 66 Abs. 1 S. 1 SGB I ermächtigt bei einer Person, die eigene Mitwirkungspflichten nicht verletzt hat, auch dann – nicht zu einer Versagung – von Leistungen, wenn eine Bedarfsgemeinschaft nach dem SGB II besteht und eine andere Person in dieser Bedarfsgemeinschaft Mitwirkungspflichten verletzt hat (Anschluss an LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 21. Juni 2016 L 6 AS 121/13).

Ein Versagungsbescheid des Jobcenters ist ermessensfehlerhaft, wenn lediglich floskelhafte Erwägungen angestellt werden oder auf Umstände abgestellt wird, die bereits zu den tatbestandlichen Voraussetzungen für die Versagung von Leistungen gehört.

Kurzbegründung dieser wegweisenden Entscheidung

Eine Versagung von Leistungen nach dem Bürgergeld trifft folgende Regelung:

Wenn derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 SGB I nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird, kann das Jobcenter ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind.

Die Mutter und Klägerin der Bedarfsgemeinschaft hat ihre Mitwirkungspflichten verletzt, da sie als Antragstellerin des Bürgergeldes ihrer Obliegenheit zur Vorlage von Beweisurkunden nach § 60 Abs. S. 1 Nr. 3 SGB I nicht nachgekommen war.

Denn zu den Mitwirkungspflichten gehören unter Umständen auch Auskünfte, die einen Dritten betreffen, soweit sie für die Gewährung der Leistung von Bedeutung und dem Antragsteller bekannt sind (vgl. BSG, Beschluss vom 25. Februar 2013 – B 14 AS 133/12 B – ).

Beweisurkunden des Partners, über welche der andere Partner verfügt, wie etwa Lohnabrechnungen oder auch Kontoauszüge – darf das Jobcenter im Rahmen der Mitwirkung fordern!!

Nichts Anderes kann für Beweisurkunden gelten, soweit der Antragsteller über diese verfügt. Das Mitwirkungsverlangen des Jobcenters stellt sich danach auch insoweit als rechtmäßig dar, als er die Klägerin zur Vorlage von Einkommensnachweisen und Kontoauszügen aufforderte, die ihren Partner betrafen.

Die Voraussetzungen der Versagung waren für die Klägerin/ Mutter gegeben – aber nicht für den Partner und die 3 Kinder – Bedarfsgemeinschaft

Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts setzt eine Versagungsentscheidung nach § 66 SGB I voraus, dass der Antragsteller bzw. Leistungsberechtigte seinen eigenen Mitwirkungspflichten nicht nachkommt. Die Rechtsfolgen des § 66 SGB I betreffen daher allein den seine Mitwirkung verweigernden Antragsteller bzw. Leistungsberechtigten, hier die Mutter der Bedarfsgemeinschaft, doch – nicht ihren Partner und ihre Kinder.

Aus dem Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft folgt nicht – so ausdrücklich der 13. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen, dass eine Versagungsentscheidung auch gegenüber Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft zulässig wäre, die in eigener Person Mitwirkungspflichten nicht verletzt haben. Zwar kommt auch im Rahmen des § 66 SGB I eine Zurechnung des Handelns des gesetzlichen Vertreters in Betracht, aber nur insoweit, als eine eigene Mitwirkungspflicht des minderjährigen Leistungsberechtigten in Rede steht (z. B. Vorlage von Nachweisen zum Einkommen, welches in eigener Person bezogen wird).

Aber § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I ermächtigt von vornherein nicht zu einer Entziehungs- oder Versagungsentscheidung gegenüber Personen, die mit einer anderen Person, die eine eigene Mitwirkungspflicht verletzt hat, in Bedarfsgemeinschaft leben (so zutreffend LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 21. Juni 2016 – L 6 AS 121/13 -; SG Potsdam, Urteil vom 9. April 2014 – S 40 AS 1288/11 – ).

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Auch innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft handelt es sich nämlich um individuelle Mitwirkungsobliegenheiten des jeweiligen Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft, bezogen auf die jeweils seiner Sphäre zuzuordnenden Pflichten. Davon zu trennen sind die materiell-rechtlich zu beurteilenden Rechtsfolgen im Fall unterbliebener Mitwirkung eines Bedarfsgemeinschaftsmitglieds auf die Leistungsansprüche der übrigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. Dezember 2023 – B 7 AS 24/22 R -).

Soweit danach wegen fehlender Mitwirkung eines Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft auch die Leistungsvoraussetzungen hinsichtlich der übrigen Mitglieder nicht nachgewiesen sind, ist ihnen gegenüber allenfalls eine Leistungsablehnung wegen nicht nachgewiesener Hilfebedürftigkeit möglich.

Grundsätzlich gilt:

1. Eine Zurechnungsnorm, nach der die Bedarfsgemeinschaft ein Fehlverhalten eines ihrer Mitglieder im Rahmen des § 66 Abs. 1 SGB I gegen sich gelten lassen muss, ist nicht ersichtlich. Insbesondere ist § 38 SGB II keine über die Vermutung einer Bevollmächtigung hinausgehende Zurechnung von Handlungen einer Person zu anderen Personen zu entnehmen (BSG, Urteil vom 7. Juli 2011 – B 14 AS 144/10 R – ).

2. Auch eine Verschuldenszurechnung in entsprechender Anwendung des § 278 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) im Rahmen einer Duldungsvollmacht (vgl. BSG, Urteil vom 8. Dezember 2020 – B 4 AS 46/20 R – ) oder – bezüglich der seinerzeit minderjährigen Kläger – im Rahmen der gesetzlichen Vertretung nach §§ 278, 1629 BGB kommt nicht in Betracht, da bei der Verletzung von Mitwirkungsobliegenheiten grundsätzlich kein schuldhaftes Handeln in Rede steht.

Die Unzulässigkeit einer Versagungsentscheidung zu Lasten der übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft führt hinsichtlich der Klägerin dazu, dass die Versagung ihr gegenüber ermessensfehlerhaft ergangen ist.

Bei der Versagung der Leistung nach § 66 Abs. 1 SGB I handelt es sich um Ermessensentscheidungen

Welche vom Jobcenter zu berücksichtigen sind. Hier hätte das Jobcenter im Rahmen seines Ermessens schon berücksichtigen müssen, ob eine Leistungsversagung gegenüber einem Mitglied einer sechsköpfigen Bedarfsgemeinschaft zweckmäßig ist, wenn der Leistungsantrag hinsichtlich der übrigen Mitglieder in der Sache noch zu bescheiden ist, weil ihnen gegenüber eine Versagungsentscheidung nicht zulässig ist. Hieran fehlt es vorliegend, so dass sich die Ermessensentscheidung des Jobcenters bereits unter diesem Gesichtspunkt als fehlerhaft darstellt.

Der Versagungsbescheid war zusätzlich ermessensfehlerhaft wegen folgender Punkte

1. Der Versagungsbescheid bestand im Wesentlichen aus formelhaften Wendungen ohne jeglichen Einzelfallbezug. Bei derartigen Leerformeln kann nicht nachgeprüft werden, ob das Jobcenter von ihrem Ermessen überhaupt und ggf. in einer dem Zweck der ihr erteilten Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.

2. Der formelhaft angebrachte Gesichtspunkt, dass im Interesse der Steuerzahler nur bei nachgewiesener Hilfebedürftigkeit und in rechtmäßiger Höhe Leistungen zu erbringen seien, ist – mag er in den Versagungsbescheiden der Jobcenter auch vielfach Verwendung finden – gänzlich ungeeignet, eine Ermessensentscheidung nach § 66 Abs. 1 SGB I zu begründen!!

Anmerkung vom Bürgergeld-Experten Detlef Brock

1. Ein Urteil ganz nach meinem Geschmack, denn hier hat das Gericht den Versagungsbescheid des Jobcenters, regelrecht aus einander genommen und in fast allen Punkten für rechtswidrig erklärt – eine Lehrstunde für das unwissende Jobcenter.

Die Rechtsfolgen des § 66 SGB I betreffen allein den seine Mitwirkung verweigernden Antragsteller bzw. Leistungsberechtigten, hier die Mutter der Bedarfsgemeinschaft, doch – nicht ihren Partner und ihre Kinder, so aber das SG Augsburg, v. 08.11.2023 – S 3 AS 308/23 .

Nach meiner Meinung ist hier ganz klar der Rechtsauffassung des LSG Niedersachsen zu folgen, denn auch innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft handelt es sich – um individuelle Mitwirkungsobliegenheiten – des jeweiligen Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft, bezogen auf die jeweils seiner Sphäre zuzuordnenden Pflichten. Davon zu trennen sind die materiell-rechtlich zu beurteilenden Rechtsfolgen im Fall unterbliebener Mitwirkung eines Bedarfsgemeinschaftsmitglieds auf die Leistungsansprüche der übrigen ( BSG Rechtsprechung ).

2. Versagungsbescheide sind grundsätzlich rechtswidrig, weil § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I darf von vornherein nicht zu einer Entziehungs- oder Versagungsentscheidung gegenüber Personen ermächtigen, die selbst keine Mitwirkungspflicht verletzt haben, sondern mit einer anderen Person, die eine eigene Mitwirkungspflicht verletzt hat, in einer Bedarfsgemeinschaft leben oder deren Anspruch auf Sozialleistungen in sonstiger Weise von Umständen abhängig ist, die in der Person des zur Mitwirkung Verpflichteten begründet liegen (vgl. Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht vom 21.06.2016 – L 6 AS 121/13; SG Potsdam vom 09.04.2014 – S 40 AS 1288/11).

Bei einer solchen Zurechnung dürfte es an der dafür erforderlichen normativen Grundlage fehlen (Zieglmeier, NZS 2012, 135, 137 m. w. N.; zu Sanktionen BSG vom 02.12.2014 – B 14 AS 50/13 R ).