Jobcenter müssen Bürgergeld-Beziehern Härtefallmehrbedarf für Zahnbehandlungen zahlen bei unterlassener Beratung

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Das Jobcenter muss Kosten der Zahnbehandlung für eine Bürgergeld – Empfängerin in Höhe von ca. 1500,00 Euro als Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II übernehmen.

Kosten von Krankenbehandlungen oder wie hier Zahnbehandlungen , die ein Empfänger von Bürgergeld aufgrund seiner privaten Krankenversicherung mit Selbstbeteiligung selbst zu bezahlen hat, können als Härtefallmehrbedarf vorübergehend vom Jobcenter zu übernehmen sein bei unterlassener Beratung und Hilfestellung durch das Jobcenter ( Orientierungssatz Detlef Brock von gegen-hartz)

Eine Bürgergeld – Empfängerin hat gegenüber dem Jobcenter einen Anspruch auf einen Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II für bereits durch geführte Zahnbehandlungen, soweit sie medizinisch notwendig und von der Krankenversicherung nicht übernommen worden sind.

Jobcenter sind gemäß § 14 SGB I verpflichtet gegenüber Leistungsempfängern zu beraten und Hilfestellung zu geben.

Solange es an einer solchen Beratung durch das Jobcenter fehlt und ein Wechsel in den Basistarif der privaten Krankenversicherung darum noch unterblieben ist, bilden die wegen eines fortbestehenden Selbstbehalts in der privaten Krankenversicherung ungedeckten Kosten der medizinischen Versorgung einen besonderen Bedarf im Sinn des § 21 Abs. 6 SGB II – Härtefallmehrbedarf.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kann angesichts der schwer überschaubaren Rechtslage vom Leistungsbeziehern des Bürgergeldes nicht verlangt werden, in einen Basistarif zu wechseln.

Solange sich dem Leistungsempfänger nicht aufdrängt, dass der Wechsel in den Basistarif vom Gesetzgeber trotz möglicherweise höherer Beitragskosten erwünscht ist und auch die höheren Beiträge voll übernommen werden, ist dieser auf eine hinreichende Belehrung der Jobcenter angewiesen, die ihn in die Lage versetzt, Mehrkosten der medizinischen Versorgung zu vermeiden.

Dies gilt umso mehr, als die Schutzlücke für die Jobcenter bei Antragstellung regelmäßig ohne Weiteres erkennbar ist und die Absicherung von Krankheitsrisiken elementare Schutzbedürfnisse betrifft, sodass Beratungspflichten in gesteigerter Weise bestehen (vgl. BSG, Urteil vom 29. April 2015 – B 14 AS 8/14 R – ).

Das hat das LSG München, Urteil v. 09.04.2024 – L 7 AS 76/23 – Bundessozialgericht hat mit Beschluss vom 19.08.2024 – B 4 AS 48/24 B – Revision nicht zugelassen.

Wann ist ein medizinischer Bedarf unabweisbar

Unabweisbar im Sinne des Grundsicherungsrechts kann wegen der Subsidiarität dieses Leistungssystems ein medizinischer Bedarf grundsätzlich nur dann sein, wenn nicht die gesetzliche Krankenversicherung oder Dritte (als solche kommt eine private Krankenversicherung in Betracht) zur Leistungserbringung, also zur Bedarfsdeckung verpflichtet sind.

Werden Aufwendungen für eine notwendige Behandlung aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung nicht übernommen, kann grundsätzlich ein Anspruch auf eine Mehrbedarfsleistung entstehen (vgl. BSG, Urteil vom 12.12.2013 – B 4 AS 6/13 R -).

Auch Leistungsempfänger, die gegen das Risiko Krankheit bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen (im Rahmen eines Versicherungsvertrages, der der Versicherungspflicht nach § 193 Abs. 3 des VVG genügt) versichert sind, müssen sich zunächst auf die Erstattung ihrer Behandlungskosten durch ihre private Krankenversicherung verweisen lassen

Denn Ansprüche zur Krankenversorgung Leistungsberechtigter, die für den Fall der Krankheit Versicherungsschutz bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen unterhalten, richten sich (zunächst) nach § 26 SGB II (vgl. BSG, Urteil vom 29.4.2015 – B 14 AS 8/14 R – )

Das Bundessozialgericht hatte zu Selbsterhaltungskosten geurteilt

Beratungspflicht Jobcenter – Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II.

Dass Selbstbehaltskosten bis zum Zeitpunkt eines möglichen Wechsels in den PKV-Basistarif nach Beratung des Grundsicherungsträgers über die Möglichkeit und die Folgen eines Verbleibs im Selbstbehaltstarif bis zur Höhe eines entsprechenden Aufwands in der gesetzlichen Krankenversicherung übergangsweise einen Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II bilden können (vgl. BSG, Urteil vom 29.4.2015 – B 14 AS 8/14 R – ).

Medizinischer Bedarf besteht ausnahmsweise bei fehlender Beratung durch das Jobcenter

Ein unabweisbarer Bedarf bestehe bei Kosten der medizinischen Versorgung ausnahmsweise, solange es an einer ausreichenden Beratung des Grundsicherungsträgers über die Möglichkeit des Wechsels in den Basistarif der privaten Krankenversicherung gefehlt hat.

Und der Wechsel deshalb zunächst unterblieben ist, soweit die Kosten in der gesetzlichen Krankenversicherung in entsprechender Höhe angefallen wären.

Bei möglichem Wechsel in den Basistarif der Krankenversicherung ist der medizinische Bedarf – nicht mehr unabweisbar

Grundsätzlich sind allerdings in einen Selbstbehalt fallende Kosten der medizinischen Versorgung nach dem mit der Einführung des Basistarifs in der gesetzlichen Krankenversicherung verfolgten Regelungskonzept ab dem Zeitpunkt nicht mehr im Sinn von § 21 Abs. 6 SGB II unabweisbar, ab dem einem privat krankenversicherten Leistungsberechtigten der Wechsel in den Basistarif ohne Selbstbehalt zumutbar möglich ist.

Wechsel in den Basistarif zumutbar – BSG Rechtsprechung

Insbesondere wurde bereits entschieden, dass nach dem SGB II Leistungsberechtigten der Wechsel in den Basistarif zumutbar ist (vgl BSG, Urteil vom 16.10.2012 – B 14 AS 11/12 R).

Beim erstmaligen Angewiesensein auf Bürgergeld kann vom Hilfebedürftigem keine Kenntnis dieser Rechtslage vorausgesetzt werden

Allerdings kann vom Bezieher von Bürgergeld beim erstmaligen Angewiesensein auf existenzsichernde Leistungen regelmäßig nicht verlangt werden, diese Rechtslage zutreffend einzuschätzen.

Und deshalb schon aus eigener Initiative in einen Basistarif der privaten Krankenversicherung ohne Selbstbehalt zu wechseln (BSG, Urteil vom 29.4.2015 – B 14 AS 8/14 R -)

Diese Kenntnislücke zu füllen obliegt dem zuständigen Grundsicherungsträger/ Jobcenter.

§ 14 SGB I- Beratung und Hilfestellung vom Jobcenter

Jeder hat Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch.

Zuständig für die Beratung sind die Leistungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind

Dem Jobcenter erwachse auch insoweit aus dem Sozialrechtsverhältnis (§ 14 SGB I) zwischen den Leistungsberechtigten und den Leistungsträgern eine Verpflichtung zu Beratung und Hilfestellung, wie sie von der bundesobergerichtlichen Rechtsprechung bereits in verschiedener Hinsicht angenommen worden ist ( Anmerkung Redakteur – vgl. BSG Urteil vom 24.11.2011 – B 14 AS 15/11 R – )

Leistungsempfänger sind auf die Hilfestellung und Beratungspflicht vom Jobcenter angewiesen

Denn solange sich den Bürgergeld- Beziehern nicht aufdränge, dass der Wechsel in den Basistarif vom Gesetzgeber trotz unter Umständen höherer Beiträge im Hinblick auf die damit verbundene Entlastung des Verwaltungsaufwands erwünscht ist und auch die höheren Beiträge voll übernommen werden, sind sie auf eine hinreichende Belehrung der Träger angewiesen, die sie in die Lage versetzt, Mehrkosten der medizinischen Versorgung zu vermeiden.

Bei fehlender ausreichender Beratung besteht Anspruch auf den Härtefallmehrbedarf

Solange es an einer solchen Beratung fehle und ein Wechsel in den Basistarif daher noch unterblieben ist, bildeten die wegen eines fortbestehenden Selbstbehalts in der privaten Krankenversicherung ungedeckten Kosten der medizinischen Versorgung einen besonderen Bedarf im Sinn des § 21 Abs. 6 SGB II.

Prägend ist, dass eine andere, weitergehende Bedarfslage vorliege als bei typischen Empfängern von Grundsicherungsleistungen.

Kosten von Krankenbehandlungen, die ein Empfänger von Arbeitslosengeld II aufgrund seiner privaten Krankenversicherung mit Selbstbeteiligung selbst zu bezahlen hat, können als Härtefallmehrbedarf vorübergehend vom Jobcenter zu übernehmen sein

Ein solcher Mehrbedarf falle an bei der Belastung durch Kosten der Krankenversorgung, die in der gesetzlichen Krankenversicherung oder nach einem Wechsel in den Basistarif der privaten Krankenversicherung vergleichbar nicht bestünden (BSG, Urteil vom 29.4.2015 – B 14 AS 8/14 R – ).

Fazit des LSG Bayern:

Diese Überlegungen des Bundessozialgerichts zum Härtefallmehrbedarf bei medizinischen Kosten sind auf die Kosten der Zahnbehandlung, die der Zahnarzt der Klägerin in Rechnung stellte und deren Erstattung die Krankenversicherung allein deshalb ablehnte, weil der von der Klägerin vereinbarte Tarif die Kosten für Zahnersatz lediglich im Umfang von 50% vorsieht, anzuwenden.

Hinweis

Rechtsmittelinstanz: BSG Kassel, Beschluss vom 19.08.2024 – B 4 AS 48/24 B –

Die Beschwerde des Beklagten ( Jobcenter ) gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. April 2024 wird als unzulässig verworfen.

Die Beschwerde wirft als Frage von grundsätzlicher Bedeutung auf, “ob eine uneingeschränkte Pflicht des Trägers nach dem SGB II zur Beratung über die Tarife der Krankenkassen besteht

Und ob ein Unterlassen dieser Beratung regelmäßig zu einem Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II führt, der vom Träger nach dem SGB II zu decken wäre”.

Dieser – sehr weiten – Formulierung lässt sich bereits nicht entnehmen, zu welchem Tatbestandsmerkmal des § 21 Abs 6 SGB II eine Entscheidung des Revisionsgerichts herbeigeführt werden soll. Auch die Klärungsbedürftigkeit dieser Frage wird nicht dargelegt.

Anmerkung vom Sozialrechtsexperten von gegen-hartz.de Detlef Brock

Fehlt es an der Beratung des Jobcenters über den nach der Vorstellung des Gesetzgebers gegebenen Weg zur ausreichenden medizinischen Versorgung, dann kann einem Leistungsberechtigten nach dem SGB 2 nicht zugemutet werden, die Mittel für die dann auf andere Weise zu erlangenden Leistungen zur Krankenbehandlung aus dem Regelbedarf zu bestreiten oder hierfür ein Darlehen aufzunehmen.

Soweit gesetzlich Krankenversicherte einen Härtefallmehrbedarf wegen gesundheitsbedingter Aufwendungen geltend machen können, die vom Leistungskatalog des SGB V nicht umfasst sind, besteht ein solcher Anspruch für PKV-Versicherte nach Art 3 Abs 1 GG in gleicher Weise.

In diese Richtung hat der erkennende Senat einen solchen Anspruch bejaht insbesondere für den Hygienemehrbedarf bei Aids-Erkrankung (BSG Urteil vom 19.8.2010 – B 14 AS 13/10 R -).

Der 4. Senat des BSG hat erwogen, dass ein solcher Anspruch bestehen könnte, wenn dem Leistungsberechtigten durch eine medizinisch notwendige Behandlung deswegen regelmäßig Kosten entstehen.

Weil Leistungen der Krankenversicherung etwa wegen ihres geringen Abgabepreises, aus sonstigen Kostengründen oder aus systematischen/sozialpolitischen Gründen von der Versorgung nach dem SGB V ausgenommen werden (BSG Urteil vom 12.12.2013 – B 4 AS 6/13 R – ).