Lebt eine unverheiratete EU-Bürgerin mit ihrem drittstaatsangehörigen, über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 2 AufenthG verfügenden Partner und dem gemeinsamen, wenige Monate alten Kind zusammen, verfügt diese mit einer für die Bejahung eines Anordnungsanspruchs hinreichenden Wahrscheinlichkeit über ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen, so aktuell das Landessozialgericht Berlin – Brandenburg mit rechtskräftigem Beschluss vom 25.09.2023 (L 9 AS 797/23 B ER ).
Dies gilt nach Aussage der Richter zu mindestens dann, wenn eine gemeinsame Sorgeerklärung gegenüber dem Jugendamt abgegeben wurde, eine echte Lebens- und Erziehungsgemeinschaft vorliegt und eine Ausreise der gesamten Familie nicht möglich ist.
Der Mutter sind unter diesen Voraussetzungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren Leistungen nach dem Bürgergeld zu gewähren.
Kein Leistungsausschluss vom Bürgergeld gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II
Nach Ansicht des Gerichts verfügt die Mutter mit hinreichender Wahrscheinlichkeit über ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen gemäß §§ 11 Abs. 14 Freizügigkeitsgesetz/EU i.V.m. §§ 27 ff. und § 25 Abs. 4 AufenthG i.V.m. Art. 6 Grundgesetz (GG) und Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).
Bei der Prüfung des Aufenthaltsrechts sorgeberechtigter Angehöriger eines minderjährigen Kindes sind Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zu berücksichtigen, wonach jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2020, 1 BvR 932/20,).
Dies gilt besonders, wenn die Gefahr besteht, dass ein Kind in dem ersten Jahr nach seiner Geburt von der Erziehungsleistung eines seiner Elternteile ausgeschlossen wird (vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 2013, B 4 AS 54/12 R).
Die Grundsatznorm, wonach der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die vollziehende Gewalt dazu, die familiären Bindungen des den Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen zur Geltung zu bringen. Es müssen die Konsequenzen der Versagung eines Aufenthaltsrechts mitbedacht und im Lichte der Grundrechte auf ihre Zumutbarkeit geprüft werden.
Ausländerrechtliche Schutzwirkungen entfalten Art. 6 GG und Art. 8 EMRK dabei nicht schon aufgrund formalrechtlicher familiärer Bindungen
Entscheidend ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist (vgl. für Fall einer unverheirateten EU-Bürgerin, die mit einem geduldeten tunesischen Staatsangehörigen und dem gemeinsamen Kind zusammenlebt, Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 6. Dezember 2022, L 4 AS 939/20).
Ausgehend davon ist ein Aufenthaltsrecht der Antragstellerin aus familiären Gründen hinreichend wahrscheinlich.
Dass der Antragstellerin bisher kein Aufenthaltstitel erteilt worden ist, führt nicht zu einem Leistungsausschluss
Denn es genügt, dass die – im Eilverfahren glaubhaft zu machenden – materiellen Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts nach dem AufenthG vorliegen, um nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen zu sein (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16. Mai 2023, L 1 AS 35/21; LSG Sachsen, Urteil vom 6. Dezember 2022, L 4 AS 939/20 ).
In Verfahren wie dem vorliegenden ist ein Verweis auf die alleinige Zuständigkeit der Ausländerbehörde für die Ermessensprüfung unzulässig, wenn die Umstände des Einzelfalls – wie im vorliegenden Fall – darauf schließen lassen, dass eine Aufenthaltserlaubnis mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erteilen wäre (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 6. April 2022, L 12 AS 1323/19 ).
Was spricht gegen einen Leistungsausschluss?
Dafür spricht besonders, dass auch ein Aufenthaltsrecht des gemeinsamen Kindes hinreichend wahrscheinlich ist.
Denn nach § 33 AufenthG kann einem Kind, das im Bundesgebiet geboren wird, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Elternteil – hier der Vater nach § 25 Abs. 2 AufenthG – eine Aufenthaltserlaubnis besitzt. Zwar liegt die Erteilung des Aufenthaltsrechts im Ermessen der Behörde.
Der Gesetzgeber hat jedoch im Zuge der Neufassung des § 33 AufenthG ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei der Ausübung des Ermessens der besonderen Beziehung zwischen den Eltern und dem Kleinkind unmittelbar nach der Geburt im Interesse der Gewährung der Familieneinheit und zur Aufrechterhaltung der nach Art. 6 GG besonders geschützten familiären Betreuungsgemeinschaft Rechnung getragen werden soll.
Hinsichtlich des Vaters eines nichtehelichen Kindes sei dabei insbesondere zu berücksichtigen, ob ihm ein Sorgerecht zusteht oder er in familiärer Lebensgemeinschaft mit seinem Kind lebt (BT-Drs. 16/5065, S. 176).
Fazit
Im Rahmen des einstweiligen Anordnungsverfahrens ist auch für das Kind davon auszugehen, dass eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen wäre und die Zuständigkeit der Ausländerbehörde für die Ermessenprüfung unschädlich ist (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 6. April 2022, L 12 AS 1323/19 ).
Anmerkung vom Sozialrechtsexperten Detlef Brock
Fraglich und als offen zu bezeichnen ist es, wie lange es noch solche positiven Entscheidungen der Gerichte geben wird, denn nach Medienberichten möchte die neue Regierung den Familiennachzug teilweise aussetzen!!