Rund 7,9 Millionen Menschen in Deutschland besitzen einen Schwerbehindertenausweis, das sind gut 9 Prozent der Bevölkerung.
Für viele schwerbehinderte Betroffene entscheidet das Merkzeichen „aG“ – außergewöhnliche Gehbehinderung – darüber, ob ihnen Parkerleichterungen, Steuervergünstigungen oder eine erleichterte Inanspruchnahme öffentlicher Verkehrsmittel offenstehen.
Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat nun in einem Urteil (Az. L 3 SB 27/21) bekräftigt, dass die Hürden für eine rückwirkende Anerkennung dieses Merkzeichens äußerst hoch liegen.
Der Fall: Eine lange Auseinandersetzung um wenige Meter Gehstrecke
Die Klägerin, Jahrgang 1932, leidet seit Jahren unter massiven orthopädischen Beschwerden: ausgeprägte Spinalkanalstenosen, fortgeschrittener Kniegelenkverschleiß und eine Rotatorenmanschettenruptur schränken ihre Mobilität erheblich ein.
Gleichwohl bestritt die Hamburger Sozialbehörde, dass schon seit ihrem ersten Antrag im Februar 2015 die Voraussetzungen einer außergewöhnlichen Gehbehinderung vorlagen.
Sie erkannte das Merkzeichen erst ab 1. Januar 2018 an, nachdem neuere Befunde – insbesondere eine Computertomographie – eine dramatische Verschlechterung der Wirbelsäulenverhältnisse belegten.
Rechtlicher Hintergrund: Was unter „außergewöhnlich“ zu verstehen ist
Der Gesetzgeber definiert schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung heute in § 229 Abs. 3 SGB IX. Entscheidend ist allein die Gehfähigkeit im öffentlichen Verkehrsraum: Wer sich „von den ersten Schritten außerhalb eines Kraftfahrzeugs an nur mit fremder Hilfe oder nur mit äußerster Anstrengung fortbewegen“ kann, erfüllt den Tatbestand.
Seit zwei Grundsatzurteilen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 9. März 2023 (Az. B 9 SB 1/22 R und B 9 SB 8/21 R) ist klargestellt, dass allein die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung zählt; günstigere Fortbewegungsmöglichkeiten in vertrauter Umgebung wirken nicht entlastend.
Die Beweisproblematik: Warum Rückwirkungsbegehren fast immer scheitern
Vor dem LSG Hamburg kam es auf penible Details an.
Die Akten enthielten widersprüchliche Angaben zur maximalen Gehstrecke der Klägerin: mal 30 Meter, mal 100 Meter, gelegentlich auch mehrere Hundert Meter. Keine der frühen ärztlichen Stellungnahmen ließ sich eindeutig einem Stichtag zuordnen; einzelne Hausarztbriefe blieben vage, während Fachbefunde fehlten.
Erst die CT-Aufnahme vom Februar 2018 wies eine hochgradige Spinalkanalenge nach, die jeder Gehbewegung dauerhaft Grenzen setzte. Mangels „einheitlicher, klarer und plausibler“ Beweisdokumente für den Zeitraum ab 9. Februar 2015 verneinte das Gericht eine rückwirkende Zuerkennung.
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Konsequenzen aus dem Urteil: Früh handeln, lückenlos dokumentieren
Das Hamburger Urteil ist kein Dammbruch gegen Betroffene – es ist vielmehr ein Weckruf. Wer eine außergewöhnliche Gehbehinderung geltend machen will, muss den medizinischen Verlauf konsequent festhalten lassen: regelmäßige Ganganalysen, Angaben zum Hilfsmittelbedarf, objektive Messungen der Gehstrecke und bildgebende Verfahren, sobald sich Symptome verschlechtern.
Nur so entsteht eine durchgehende Beweiskette, die auch rückwirkend tragfähig sein kann. Darauf weist, praxisnah, Rentenberater Frank Weise hin, der die Klägerin begleitete.
Er rät, Anträge sofort nach Eintritt gravierender Mobilitätseinbußen zu stellen und bereits vor der Antragstellung ärztliche Unterstützung einzubinden.
Einordnung in die bundesweite Rechtsprechung
Die Entscheidung aus Hamburg fügt sich in eine Entwicklung ein, die das BSG im Frühjahr 2023 skizziert hat: Weg von pauschalen Vergleichsgruppen (etwa Hüftexartikulierte), hin zu einer individualisierten Prüfung der mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung.
Dabei darf das Versorgungsamt – so das höchste Sozialgericht – weder auf ideale Laborbedingungen verweisen noch auf Situationen, in denen sich Betroffene etwa an Geländern abstützen können. Entscheidend bleibt, ob sie sich im Alltag draußen ohne Hilfe kaum bewegen können.
Bewertung: Ein Urteil zwischen Strenge und Rechtssicherheit
Aus Sicht vieler Betroffener mag das Hamburger Urteil hart wirken. Tatsächlich schafft es aber Rechtssicherheit: Nur eine sauber belegte, dauerhafte Einschränkung des Gehens rechtfertigt die weitreichenden Privilegien des Merkzeichens „aG“.
Für die Praxis bedeutet das: Jeder Antrag sollte von Beginn an auf solide Fakten gestützt sein. Hausärztinnen und Fachärzte sind gefordert, Befunde nicht nur knapp zu attestieren, sondern die konkrete, im Alltag relevante Gehfähigkeit präzise zu beschreiben. Geschieht das, lässt sich langwieriger Prozessstreit oft vermeiden.
Ausblick
Mit seiner klaren Absage an rückwirkende Großzügigkeit macht das LSG Hamburg deutlich, dass der „Sprung“ in die Kategorie außergewöhnliche Gehbehinderung keine Frage wohlmeinender Kulanz, sondern harter medizinischer Tatsachen ist. Künftig dürfte der Ausgang vergleichbarer Verfahren davon abhängen, ob Antragstellende frühzeitig ein lückenloses medizinisches Dossier vorlegen können. Wer das beherzigt, erhöht seine Erfolgschancen – und vermeidet, wie die Klägerin, eine Odyssee durch alle Instanzen.