Das Jobcenter muss Entsorgungs- und Sperrmüllkosten in Höhe von 3070 € als Umzugskosten übernehmen, denn unter Umzugskosten sind alle Kosten zu verstehen, die durch das Ausräumen einer Wohnung und den Transport von einem zum anderen Ort anfallen, unabhängig davon, ob Umzugsziel eine neue Wohnung (vgl. BSG, Urteil vom 15.11.2012 – B 8 SO 25/11 R –) oder wie vorliegend wegen eingetretener Unbrauchbarkeit eine Entsorgungsstation bzw. Mülldeponie ist.
Das Gericht nimmt kein Blatt vor den Mund und spricht Klartext: Gerichtshammer
Es rügt das Jobcenter wegen seinem diskriminierenden , nahezu unverschämten und zynischen Verhalten aufgrund des lapidaren Verweises zur Selbsthilfe bei bekannter schwerer paranoiden Schizophrenie und deutlich eingeschränkter Alltagskompetenz der Bürgergeld Bezieherin.
Umzugskosten im Sinne des § 22 Abs. 6 SGB II
Zu den Umzugskosten zählen auch Entsorgungs- und Sperrmüllkosten für die Beräumung der durch Löschwasser zerstörten Wohnung wegen eines oberhalb ihrer Wohnung eingetretenen Wohnungsbrandes.
Die Bürgergeld Bezieherin vor diesem Hintergrund und in Kenntnis der bei ihr bestehenden Erkrankungen lapidar auf die Selbsthilfe und zweimal jährlich stattfindende Sperrmüllaktionen verweisen zu wollen, ist nicht nur diskriminierend, sondern nahezu unverschämt und zynisch.
Eine wegen deutlich eingeschränkter Alltagskompetenz nicht mögliche Selbsthilfe verlagert sich nicht ohne weiteres auf die Betreuerin.
Das gibt das Sozialgericht Halle mit rechtskräftigem Urteil ( Az. S 11 AS 697/23) bekannt.
Begründung des Gerichts: Das Jobcenter möchte die Antragstellerin auf Selbsthilfe verweisen
Die Klägerin leidet an einer paranoiden Schizophrenie, einer Persönlichkeitsänderung aufgrund jahrelanger Abhängigkeit von multiplen psychoaktiven Substanzen, einer Abhängigkeit von multiplen psychoaktiven Substanzen sowie an einer Cannabis- und einer Alkoholabhängigkeit.
Für sie wurde u.a. auch für den Aufgabenkreis der Wohnungsangelegenheiten die im Rubrum aufgeführte Betreuerin bestellt.
Die Entsorgung sei zumutbar im Rahmen der Selbsthilfe durchzuführen, zumal Sperrmüll zweimal jährlich gebührenfrei abgefahren werde, so die Ansicht des Jobcenters.
Dem ist das Sozialgericht Halle aber nicht gefolgt
Denn Rechtsgrundlage für den Anspruch ist § 22 Abs. 6 Satz 1 SGB II. Danach können Wohnungsbeschaffungskosten und Umzugskosten bei vorheriger Zusicherung durch den bis zum Umzug örtlich zuständigen kommunalen Träger als Bedarf anerkannt werden.
Die Zusicherung soll erteilt werden, wenn der Umzug durch den kommunalen Träger veranlasst oder aus anderen Gründen notwendig ist und wenn ohne die Zusicherung eine Unterkunft in einem angemessenen Zeitraum nicht gefunden werden kann (§ 22 Abs. 6 Satz 2 SGB II).
Ist – wie hier – die vorherige Zusicherung der Übernahme von Umzugskosten bzw. Wohnungsbeschaffungskosten abgelehnt worden und hat der Leistungsberechtigte entsprechende Aufwendungen getätigt, so kann sich der Anspruch auf die Zusicherung aus § 22 Abs. 6 SGB II in einen Kostenerstattungsanspruch umwandeln (BSG, Urteil vom 06.08.2014 – B 4 AS 37/13 R – ).
Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin, die im Zeitpunkt der Fälligkeit der Beräumungskosten im Leistungsbezug beim Jobcenter stand, vor.
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Umzugsgrund ist gegeben – Wohnungsbrand
Durch das wegen eines Wohnungsbrandes in die Wohnung der Klägerin eingedrungene Löschwasser ist die Unterkunft der Klägerin unbewohnbar geworden, was sich aus der Bestätigung des Vermieters ergibt und zugleich eine umgehende Umzugsnotwendigkeit begründet.
Das Gericht betont, dass in diesem Zusammenhang anfallende Beräumungskosten sind schon begrifflich als Umzugskosten einzuordnen sind und vorliegend vom Jobcenter bei – vollständig reduziertem Ermessen – als notwendig zu übernehmen sind.
Nicht von Bedeutung ist, dass die Klägerin zur Zeit noch stationär behandelt wird und die neue Wohnung noch nicht bewohnt, dies ändert nichts an der Einordnung als Umzugskosten
Denn unter Umzugskosten sind insoweit alle Kosten zu verstehen, die durch das Ausräumen einer Wohnung und den Transport von einem zum anderen Ort anfallen, unabhängig davon, ob Umzugsziel eine neue Wohnung (vgl. BSG, Urteil vom 15.11.2012 – B 8 SO 25/11 R –) oder wie vorliegend wegen eingetretener Unbrauchbarkeit eine Entsorgungsstation bzw. Mülldeponie ist.
Umzugskosten sind insoweit auch anfallende Entsorgungs- bzw. Sperrmüllkosten. Eine Aufteilung danach, ob Möbel mitgenommen oder entsorgt werden, wäre zudem systematisch nicht nachvollziehbar.
Das Jobcenter darf nicht auf Selbsthilfe verweisen
Denn die bei der Klägerin diagnostizierten psychiatrischen Erkrankungen führen zu einer deutlich eingeschränkten Alltagskompetenz, was eine zumutbare Selbsthilfe zur Organisation und Bewältigung der Räumung einer durch Löschwasser zerstörten Wohnungseinrichtung ausschließt.
Hinzu kommt, dass für die Klägerin wegen ihrer Erkrankungen auch für Wohnungsangelegenheiten eine Betreuerin bestellt ist.
Das Gericht betont, dass das Verhalten des Jobcenters mit dem Verweis auf Selbsthilfe nicht nur diskriminierend, sondern nahezu unverschämt und zynisch ist
Die Klägerin vor diesem Hintergrund und in Kenntnis der bei ihr bestehenden Erkrankungen lapidar auf die Selbsthilfe und zweimal jährlich stattfindende Sperrmüllaktionen verweisen zu wollen, ist nicht nur diskriminierend, sondern nahezu unverschämt und zynisch.
Daneben verlagert sich eine Selbsthilfeobliegenheit entgegen der Ansicht des Jobcenters nicht ohne weiteres auf die Betreuerin.
Dass diese für die Besorgung der Wohnungsangelegenheiten der Klägerin Sorge zu tragen hat, bedeutet nicht zugleich, anstelle der Klägerin eine durch Löschwasser zerstörte Wohnung selbst zu beräumen.
Entgegen der Auffassung des Jobcenters kann die Klägerin zudem nicht auf die Geltendmachung von etwaigen (deliktischen) Schadenersatzansprüchen gegen den Verursacher des Wohnungsbrandes verwiesen werden
Denn eine solche Einschränkung sieht schon der Wortlaut von § 22 Abs. 6 SGB II tatbestandlich nicht vor. Stattdessen ist es gegebenenfalls Sache des Jobcenters, zu prüfen, ob an ihn ein etwaiger Schadenersatzanspruch der Klägerin gegen den Verursacher des Wohnungsbrandes abgetreten werden vermag bzw. eine eigene Inanspruchnahme des Verursachers des Wohnungsbrandes etwa im Wege der sog. Drittschadensliquidation (vgl. § 285 BGB analog) in Betracht kommt.
Dies bedeutet für das Jobcenter freilich mehr Prüfaufwand als der kurze Verweis auf eine vermeintliche Selbsthilfe.
Anmerkung vom Sozialrechtsexperten Detlef Brock
Die Entscheidung und Begründung des Gerichts ist zu begrüßen.
Endlich hat mal ein Gericht den Mut sich einer Behörde in den Weg zu stellen.
Dieses unmenschliche Verhalten des Jobcenters/ Behördenmitarbeiter gehört an die Öffentlichkeit und muss für die Behörde wie ein Schlag ins Gesicht gewirkt haben. Eine unter Betreuung stehende schwerstkranke Leistungsempfängerin auf Selbsthilfe zu verweisen, ist nach meiner Meinung blanke Diskriminierung oder Sozialneid.
Behördenmitarbeiter sind Staatsdiener nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Ein zynisches Verhalten gegenüber Hilfebedürftigen ist für mich zu 100% Diskriminierung. So ein Verhalten muss für den Betroffenen auch Konsequenzen haben.
Jedem steuerfinanzierten „Kundenberater“ jedes steuerfinanzierten „Jobcenters“ ist es zuzumuten, seinen königlichen „Kunden“ bei Bedarf „Kundengespräche“ in wertschätzendem Ton anzubieten und wohlwollend um ihre Mitwirkung zu werben. ( so zutreffend SG Karlsruhe, Urt. v. 09.05.2023 – S 12 AS 2046/22 ).
Durch den Wohnungsbrand braucht die Leistungsempfängerin bestimmt auch neue Möbel in der neuen Wohnung – komplette oder teilweise Wohnungserstausstattung.
Bei einem Wohnungsbrand und durch Löschwasser zerstörten Wohnung besteht auch ein Rechtsanspruch auf eine neue Wohnungserstausstattung, wobei das Ermessen des Jobcenters auf Null reduziert ist ( Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ).
Dies gilt selbst dann, wenn aufgrund gesundheitlicher und psychischer Probleme eine außergewöhnliche Situation bestanden hat, die zum – unverschuldeten Untergang – der Wohnungs- und Haushaltsgegenstände geführt hat.