Mit Beschluss (Az. S 12 R 1202/25 ER) hat das Sozialgericht Karlsruhe entschieden, dass ein 66-jähriger Antragsteller seine beantragte Regelaltersrente nicht im Eilverfahren erhält, obwohl die Deutsche Rentenversicherung sämtliche Unterlagen als vollständig bestätigt hatte.
Stattdessen, so das Gericht, solle er sich bis zum Erlass des Rentenbescheids an das Sozialamt wenden und Grundsicherung beantragen.
Zu Spät den Rentenantrag gestellt
Ein 66-jähriger Versicherter hatte bereits Monate vor Erreichen seiner Regelaltersgrenze den Rentenantrag gestellt. Die Deutsche Rentenversicherung bestätigte schriftlich, sämtliche Nachweise – Versicherungsverlauf, Lohnkontennachweise, Zeiten der Arbeitslosigkeit und Kindererziehung – lägen vollständig vor.
Dennoch blieb der Bescheid aus. Während sein Girokonto immer tiefer ins Soll rutschte, entschied sich der Mann für den einstweiligen Rechtsschutz nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Ziel war eine vorläufige Zahlung seiner Regelaltersrente, bis die Rentenversicherung den Hauptsachebescheid erlässt.
Eilantrag gestellt
Eilrechtsschutz ist im Sozialrecht zweistufig aufgebaut: Der Antragsteller muss einen „Anordnungsanspruch“ – also die hohe Wahrscheinlichkeit eines materiellen Anspruchs – und einen „Anordnungsgrund“ darlegen, der eine besondere Dringlichkeit begründet.
Die Kammer gestand dem Rentner zwar zu, dass sein Anspruch dem Grunde nach wahrscheinlich bestehe, verwies aber auf das zweite Tatbestandsmerkmal: Eine existenzielle Notlage sei nicht ersichtlich, weil der Mann Grundsicherung im Alter nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) beantragen könne. Ohne drohenden irreparablen Schaden fehle somit der Anordnungsgrund.
Schonvermögen müsse verbraucht werden
Der Antragsteller machte geltend, die Grundsicherung sei schon deshalb keine zumutbare Alternative, weil er zunächst eigenes Schonvermögen verbrauchen müsse, was seine Altersvorsorge untergrabe.
Die Vertreterin der Deutschen Rentenversicherung räumte zwar Verzögerungen im Bearbeitungsablauf ein, betonte jedoch, dass eine vorläufige Rentenzahlung die Hauptsache „vollständig vorwegnehme“ und bei nachträglicher Ablehnung zu komplizierten Rückabwicklungen führe.
Zudem verwies sie auf § 42 SGB I: Ein Vorschuss käme erst dann in Betracht, wenn die Verwaltung ihre internen Vorprüfungen abgeschlossen habe.
Argument des Gerichts
Die Kammer legte den Schwerpunkt auf das Subsidiaritätsprinzip: Staatliche Fürsorgeleistungen müssen vorrangig genutzt werden, wenn sie existenzsichernd wirken und schneller verfügbar sind als die strittige Versicherungsleistung.
Der Beschluss führt aus, dass Grundsicherung binnen weniger Tage bewilligt werden könne und dass deren Inanspruchnahme keine Vorwegnahme des Rentenanspruchs darstelle.
Weil sich die vorläufige Rente dagegen nicht ohne Weiteres zurückfordern ließe, müsse das Gericht die Interessen des öffentlichen Haushalts stärker gewichten. Die Richterin sprach in der mündlichen Begründung von einer „Verhältnismäßigkeits- und Folgenabwägung“, die zugunsten der Verwaltung ausfalle.
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Kritische Würdigung der Begründung
Rechtswissenschaftler verweisen darauf, dass § 42 SGB I gerade als Korrektiv für Bearbeitungsverzögerungen geschaffen wurde. Wenn ein Anspruch dem Grunde nach feststeht, soll der Vorschuss verhindern, dass Versicherte in staatliche Fürsorge abgedrängt werden.
Die Karlsruher Entscheidung kehrt dieses Schutzkonzept um: Sie macht die Grundsicherung zum Regelinstrument und degradiert den Vorschuss zur Ausnahme.
Sozialrechtler verweisen zudem auf Entscheidungen des Bundessozialgerichts, in denen der 2. Senat betont hat, dass Rückforderungen einer zu Unrecht gewährten Vorschussleistung über § 42 Abs. 2 SGB I rechtlich abgesichert sind; ein Rückabwicklungs-Risiko könne deshalb kein tragfähiges Ablehnungsargument sein.
Problem langer Bearbeitungszeiten der Rentenversicherung
Die Deutsche Rentenversicherung gibt ihre durchschnittliche Bearbeitungszeit für Altersrenten mit knapp zwei Monaten an; Betroffene berichten jedoch häufig von deutlich längeren Fristen, wenn Unterlagen pendeln oder intern nachgefordert werden. Solche Verzögerungen öffnen die Lücke, in der Menschen ohne eigenes Einkommen auf Sozialhilfe verwiesen werden.
Welche Möglichkeiten Betroffene haben
Wer in eine Schieflage gerät, sollte den Vorschuss nach § 42 SGB I schriftlich verlangen, eine kurze Frist setzen und bei Untätigkeit eine Dienst- oder Fachaufsichtsbeschwerde beim Bundesamt für Soziale Sicherung einreichen.
Parallel kann eine Untätigkeitsklage nach § 88 SGG Druck aufbauen. Telefonische Nachfragen und lückenlose Dokumentation jeder Kontaktaufnahme erhöhen den Handlungsdruck auf die Verwaltung.
Vorbeugen ist besser als heilen
Die Rentenversicherung empfiehlt, den Antrag spätestens drei Monate vor Rentenbeginn zu stellen.
Experten raten, sechs Monate Vorlauf einkalkuliert zu beginnen, um Rückfragen rechtzeitig klären zu können. Wer drei Monate vor Beginn schriftlich nachfasst und sich den vollständigen Eingang der Unterlagen bestätigen lässt, reduziert das Risiko einer Versorgungslücke erheblich.
Kommentar: Ein Dämpfer für das Vertrauen in den Sozialstaat
Formal folgt der Karlsruher Beschluss den Regeln des einstweiligen Rechtsschutzes. Materiell jedoch verschiebt er das Risiko behördlicher Verzögerungen komplett auf Versicherte, die jahrzehntelang Beiträge gezahlt haben.
Die Sozialhilfe wird zur Zwischenfinanzierung eines Systems, das seine Leistungen – pünktige Rentenzahlung – nicht fristgerecht erbringt.