Bürgergeld: Bedarfsgemeinschaft auf Probe – gewichtige Umstände können dagegen sprechen

Lesedauer 6 Minuten

Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat in einem vielbeachteten Beschluss klargestellt, dass Jobcenter beim Zusammenzug eines unverheirateten Paares nicht vorschnell von einer vollen Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB II ausgehen und das Einkommen des Partners auf das Bürgergeld anrechnen dürfen. Leben Partner noch keine zwölf Monate zusammen und liegen keine besonderen zusätzlichen Umstände vor, spricht vieles dafür, lediglich von einer „Bedarfsgemeinschaft auf Probe“ auszugehen.

Für Betroffene bedeutet das Urteil: Das erste gemeinsame Jahr in einer Wohnung ist rechtlich ein Schutzraum, in dem die Partnerschaft sich entwickeln darf, ohne dass automatisch die existenzsichernden Leistungen gekürzt werden.

Was eine Bedarfsgemeinschaft beim Bürgergeld bedeutet

In der Grundsicherung nach dem SGB II (Bürgergeld) ist die Frage, ob eine Bedarfsgemeinschaft vorliegt, von erheblicher Bedeutung. Wer allein lebt, dessen Anspruch richtet sich ausschließlich nach dem eigenen Einkommen und Vermögen. Leben jedoch mehrere Personen in einer Bedarfsgemeinschaft, werden Einkommen und Vermögen aller Mitglieder zusammengerechnet und auf den Gesamtbedarf angerechnet.

Das kann dazu führen, dass ein erwerbstätiger Partner mit seinem Einkommen faktisch für den Lebensunterhalt des anderen mitaufkommen muss – selbst ohne rechtliche Unterhaltsverpflichtung.

Rechtsgrundlage ist unter anderem § 7 SGB II. Dort ist geregelt, wer zur Bedarfsgemeinschaft gehört. Neben Ehegatten und eingetragenen Lebenspartnern können auch nicht verheiratete Paare und Kinder im Haushalt dazugehören.

Für unverheiratete Paare knüpft das Gesetz an die sogenannte Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft an – also an den wechselseitigen Willen, füreinander Verantwortung zu übernehmen.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat diesen Begriff präzisiert: Eine solche Gemeinschaft liegt nur vor, wenn es sich erstens um Partner handelt, die zweitens in einer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft leben und drittens so zusammenleben, dass nach verständiger Würdigung davon auszugehen ist, dass sie Verantwortung füreinander tragen und füreinander einstehen wollen. Alle drei Voraussetzungen müssen erfüllt sein.

Der Fall aus Lübeck: Vom Jobverlust zur Leistungskürzung

Im nun entschiedenen Fall zog ein 52-jähriger Mann im April 2025 mit seiner Partnerin in Lübeck in eine gemeinsame Wohnung. Zunächst bezog er Arbeitslosengeld I, später musste er Bürgergeld beantragen.

Als das Jobcenter den Antrag prüfte, stufte es das Paar nicht lediglich als zwei Menschen in einem gemeinsamen Haushalt ein, sondern als Bedarfsgemeinschaft. Das Einkommen der Partnerin – aus Erwerbstätigkeit und Rente – wurde dem Mann zugerechnet; der Bürgergeldanspruch sank deutlich.

Der Mann wehrte sich gegen den Bescheid. Seine Partnerin sei nicht verpflichtet, für seinen Lebensunterhalt einzustehen. Beide hätten sich bewusst nicht verheiratet und wollten in der Anfangsphase des Zusammenwohnens zunächst prüfen, ob das gemeinsame Leben überhaupt dauerhaft tragfähig sei.

Das Jobcenter hielt dagegen: Das Paar führe bereits jetzt eine enge Beziehung, der gemeinsame Haushalt und der gemeinsame Mietvertrag zeigten den Einstandswillen.

Das Sozialgericht Lübeck folgte zunächst der Argumentation des Jobcenters und lehnte den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ab. Erst in der Beschwerdeinstanz vor dem LSG Schleswig-Holstein setzte sich der Mann durch.

Die Argumentation des Jobcenters: Gemeinsame Wohnung als Beweis?

Das Jobcenter leitete aus mehreren Umständen ab, dass eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft vorliegen müsse. Die Behörde verwies darauf, dass das Paar einen gemeinsamen Mietvertrag unterschrieben hatte, den Haushalt gemeinsam bewirtschaftete, alltägliche Ausgaben nicht streng trennte und der Mann das Auto seiner Partnerin mitbenutzte.

Aus Sicht des Jobcenters zeigten diese Dinge, dass man wirtschaftlich und persönlich bereits so eng verbunden sei, dass von einer gegenseitigen Einstandspflicht auszugehen sei – und zwar auch dann, wenn das gesetzliche „Probejahr“ des § 7 Abs. 3a SGB II noch nicht verstrichen ist. Das Jobcenter interpretierte die gemeinsame Gestaltung des Alltags als ausreichendes Indiz für den Willen, füreinander einzustehen.

Gerade diese Sichtweise hat das LSG nun zurückgewiesen und die Anforderungen für eine frühzeitige Anrechnung von Partnereinkommen deutlich angehoben.

Die Vermutungsregel des § 7 Abs. 3a SGB II – das „Probejahr“

§ 7 Abs. 3a SGB II enthält eine Vermutungsregelung, die für die Praxis der Jobcenter außerordentlich wichtig ist. Das Gesetz bestimmt, dass der wechselseitige Wille, füreinander einzustehen, vermutet werden darf, wenn mindestens eine von vier typischen Konstellationen vorliegt.

Diese Vermutung greift, wenn Partner länger als ein Jahr zusammenleben, wenn sie mit einem gemeinsamen Kind leben, wenn sie Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder wenn sie berechtigt sind, über Einkommen oder Vermögen der jeweils anderen Person zu verfügen.

Die erste Variante – das Zusammenleben über mehr als ein Jahr – wird häufig als eine Art „Probejahr“ verstanden.

Während dieses Jahres dürfen Paare ihr Zusammenleben erproben, ohne dass allein die gemeinsame Wohnung automatisch dazu führt, dass das Jobcenter eine Einstehensgemeinschaft annimmt. Gerichte haben wiederholt betont, dass dieses Jahr den Partnern die Möglichkeit geben soll, überhaupt erst zu klären, ob sie bereit sind, in Notsituationen füreinander aufzukommen.

Wichtig ist: § 7 Abs. 3a SGB II regelt eine Vermutung, aber keinen Automatismus. Auch nach Ablauf eines Jahres können besondere Umstände im Einzelfall gegen das Bestehen einer Einstehensgemeinschaft sprechen. Umgekehrt kann in Ausnahmefällen auch schon vor Ablauf des Jahres eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft vorliegen – allerdings nur dann, wenn wirklich gewichtige zusätzliche Umstände nachgewiesen werden.

LSG Schleswig-Holstein: Gewichtige Umstände sind nötig

Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht hat in seinem Beschluss vom 29. Oktober 2025 diese Systematik ausdrücklich bestätigt und weiter geschärft. Leben Partner kürzer als ein Jahr zusammen, kann eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft nur angenommen werden, wenn gewichtige Umstände hinzukommen. Ein Zusammenleben, wie es für eine beginnende Partnerschaft typisch ist, reicht dafür nicht aus.

Die Richterinnen und Richter stellten klar, dass die vom Jobcenter angeführten Punkte – gemeinsamer Mietvertrag, gemeinsamer Haushalt, Mitbenutzung des Autos – eher normale Begleiterscheinungen einer noch jungen Beziehung seien.

Ist Ihr Bürgergeld-Bescheid korrekt?

Lassen Sie Ihren Bescheid kostenlos von Experten prüfen.

Bescheid prüfen

Solche Indizien könnten sich ebenso in Wohngemeinschaften finden. Sie erlaubten allein keine tragfähige Aussage darüber, ob wirklich ein wechselseitiger Wille besteht, in wirtschaftlichen Krisen dauerhaft füreinander einzustehen.

Das Gericht spricht in diesem Zusammenhang von einer „Anfangs- und Erprobungsphase“ des Zusammenlebens als Paar. In dieser Phase entwickele sich der Alltag, Routinen entstünden, man teile Kosten, Wege und Verantwortung. Das sei menschlich und sozial nachvollziehbar, aber rechtlich noch nicht gleichbedeutend mit der Bereitschaft, die eigene wirtschaftliche Existenz zugunsten der anderen Person zurückzustellen.

Bedarfsgemeinschaft auf Probe – ein Begriff aus der Praxis

Der Begriff „Bedarfsgemeinschaft auf Probe“ findet sich im Gesetz nicht ausdrücklich. Er hat sich aber in Rechtsprechung und Beratungspraxis etabliert, um den Zeitraum des gemeinsamen Zusammenlebens vor Ablauf des Probejahrs zu beschreiben.

Gemeint ist die Konstellation, in der zwar ein Paar in einer Wohnung lebt, die gesetzlichen Vermutungstatbestände des § 7 Abs. 3a SGB II aber noch nicht erfüllt sind und auch keine außergewöhnlichen zusätzlichen Umstände vorliegen.

In diesem Stadium darf das Jobcenter nicht einfach unterstellen, der erwerbstätige Partner stehe für den Lebensunterhalt des anderen ein. Es muss vielmehr sehr genau prüfen und im Zweifel konkret darlegen, welche Tatsachen auf einen tatsächlichen Einstandswillen schließen lassen. Das LSG Schleswig-Holstein betont genau diese Pflicht: Bloße Vermutungen „ins Blaue hinein“ reichen nicht, es braucht nachvollziehbare, belastbare Anhaltspunkte.

Der rechtliche Effekt ist erheblich: Wird nur eine Bedarfsgemeinschaft auf Probe angenommen, bleibt das Einkommen des Partners im Regelfall außen vor. Die leistungsberechtigte Person behält ihren vollen Anspruch, soweit die übrigen Voraussetzungen vorliegen.

Was „gewichtige Umstände“ bedeuten können

Das Urteil lässt bewusst offen, welche Konstellationen im Einzelnen als „gewichtige Umstände“ zu werten sind. Aus der bisherigen Rechtsprechung zum Thema Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft lassen sich jedoch einige Orientierungspunkte ableiten. Gerichte achten etwa darauf, ob Partner ihre Finanzen weitgehend verschmelzen, ob sie sich rechtlich umfassend absichern – etwa durch Vollmachten oder wechselseitige finanzielle Verpflichtungen – oder ob sie sich in einer Weise organisieren, die deutlich über das übliche Teilen von Miete, Lebensmitteln und Alltagskosten hinausgeht.

Entscheidend ist stets die Gesamtwürdigung. Einzelne Indizien können unterschiedlich schwer wiegen, die Gerichte betrachten das gesamte Bild der Lebensführung. Das LSG Schleswig-Holstein macht allerdings deutlich: Ein kurzer Zeitraum des Zusammenlebens, ein gemeinsamer Mietvertrag und eine „typische“ Gestaltung des Alltags als Paar reichen nicht aus, um eine solch weitreichende Rechtsfolge wie die Anrechnung fremden Einkommens zu rechtfertigen.

Warum das Urteil für viele Paare wichtig ist

In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass Jobcenter Paare, die erst seit kurzer Zeit zusammenleben, frühzeitig als Bedarfsgemeinschaft einstufen und das Einkommen des Partners anrechnen. Sozialberatungsstellen berichten seit Jahren davon, dass die Vermutungsregelung des § 7 Abs. 3a SGB II missverstanden oder zu rigide angewendet wird.

Das Urteil aus Schleswig-Holstein hat deshalb Signalwirkung. Es zeigt, dass das Probejahr keine bloße Empfehlung ist, sondern ein wichtiges Element des gesetzlichen Schutzkonzepts: Partnerschaften sollen sich entwickeln können, ohne dass das Jobcenter sofort auf eine wirtschaftliche Einstandspflicht schließt.

Das betrifft nicht nur junge Paare, sondern auch Menschen, die nach Trennung, Krankheit, Arbeitslosigkeit oder anderen Krisen eine neue Beziehung beginnen und gleichzeitig auf Bürgergeld angewiesen sind.

Zugleich erinnert das Urteil daran, dass jede Bedarfsgemeinschaft auch im Rechtssinn eine starke Konsequenz hat: Wer Teil einer Bedarfsgemeinschaft ist, trägt wirtschaftliche Verantwortung, ob er das will oder nicht.

Das Bundesverfassungsgericht hat zwar hervorgehoben, dass auch in einer Bedarfsgemeinschaft jeder Leistungsberechtigte einen eigenen Anspruch behält. Gleichwohl sind diese Ansprüche durch die Anrechnung des Partnereinkommens unmittelbar miteinander verknüpft.

Widerspruch und einstweiliger Rechtsschutz

Für Bürgergeld-Empfängerinnen und -Empfänger bedeutet der Beschluss: Wer weniger als ein Jahr mit seinem Partner zusammenlebt und vom Jobcenter dennoch als Bedarfsgemeinschaft eingestuft wird, sollte diese Entscheidung sehr genau prüfen lassen.

Gerade wenn die Behörde sich im Wesentlichen auf typische Alltagsabläufe stützt – gemeinsame Wohnung, gemeinsamer Einkauf, gemeinsame Nutzung von Gegenständen – fehlen womöglich die erforderlichen gewichtigen Umstände.

Gegen fehlerhafte Bescheide ist der Widerspruch das reguläre Rechtsmittel. Kommt es dadurch nicht rechtzeitig zu einer Entscheidung oder drohen existenzielle Nachteile, kann zusätzlich ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht gestellt werden – genau so, wie es der Kläger im Lübecker Fall getan hat. Dass er im ersten Schritt beim Sozialgericht scheiterte, zeigt zugleich, dass die Rechtslage keineswegs trivial ist und sich die Durchsetzung der eigenen Ansprüche lohnen kann.

Wichtig bleibt: Eine individuelle rechtliche Beratung kann dieser Beitrag nicht ersetzen. Er kann aber helfen, die eigene Situation besser einzuordnen und problematische Einstufungen durch das Jobcenter zu erkennen.

Einordnung im Gesamtbild der Rechtsprechung

Das LSG Schleswig-Holstein knüpft mit seinem Beschluss an eine Linie der sozialgerichtlichen Rechtsprechung an, die das Probejahr ernst nimmt und hohe Anforderungen an die Annahme einer Einstehensgemeinschaft vor Ablauf von zwölf Monaten stellt. Auch andere Gerichte haben betont, dass Partner zunächst ausreichend Gelegenheit haben müssen, ihr Zusammenleben auszuprobieren, bevor die gesetzliche Vermutung greift.

Parallel dazu verweist das Gericht auf die Grundsätze des Bundessozialgerichts: Partnerschaft, gemeinsamer Haushalt und Einstandswille müssen gemeinsam vorliegen; der Wille, füreinander einzustehen, ist anhand konkreter Tatsachen festzustellen, nicht allein aufgrund eines bloßen Verdachts.

Das Urteil schärft damit die Grenzen zwischen Wohngemeinschaft, Bedarfsgemeinschaft auf Probe und voller Bedarfsgemeinschaft. Es mahnt die Jobcenter zu sorgfältiger Prüfung und fundierter Begründung, bevor fremdes Einkommen auf existenzsichernde Leistungen angerechnet wird. Für Betroffene eröffnet es zugleich realistische Chancen, sich erfolgreich gegen eine vorschnelle Einstufung als Bedarfsgemeinschaft zu wehren – insbesondere solange das erste Jahr des gemeinsamen Zusammenlebens noch nicht verstrichen ist.

Quelle: Aktenzeichen: L 3 AS 163/25 B ER, L 3 AS 199/25 B PKH