Die Erwerbsminderungsrente hilft, wenn Krankheit oder Behinderung die Erwerbsfähigkeit dauerhaft einschränken. Sie schließt Einkommenslücken und schützt Betroffene vor existenziellen Risiken. Zugleich ist der Zugang streng geregelt, und die Leistung wird im Regelfall nur befristet bewilligt.
Für Betroffene ist deshalb entscheidend, unter welchen Voraussetzungen die Rente „auf Dauer“, also unbefristet, gewährt wird. Orientierung bietet neben dem Gesetz insbesondere ein Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Hamburg vom 15. August 2023 (Az. L 3 R 74/21), das die Leitlinien für eine Dauerrente prägnant herausarbeitet.
Inhaltsverzeichnis
Erwerbsminderung und Befristung
Der Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung setzt voraus, dass Versicherte unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts auf nicht absehbare Zeit weniger als drei Stunden täglich erwerbstätig sein können.
Diese Schwelle – unter drei Stunden – ist die wichtigste medizinisch-funktionale Bezugsgröße. Bis zur Regelaltersgrenze erfüllt die Erwerbsminderungsrente eine Lohnersatzfunktion; mit Erreichen der Regelaltersgrenze wird grundsätzlich eine Regelaltersrente geleistet, sofern Versicherte nichts anderes bestimmen.
Der Gesetzgeber ordnet für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit den Regelfall der Befristung an. Eine erstmalige Bewilligung erfolgt für längstens drei Jahre; Verlängerungen sind möglich und jeweils wiederum auf längstens drei Jahre begrenzt. Diese Systematik betont die Prüfpflicht der Rentenversicherung, ob sich der Gesundheitszustand und damit das Leistungsvermögen wesentlich ändern.
Die Ausnahme: Wann die Dauerrente zu bewilligen ist
Die unbefristete Leistung ist die gesetzliche Ausnahme – sie greift, wenn es unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann. Dieses „Unwahrscheinlichkeitskriterium“ ist der rechtliche Schlüsselbegriff.
Er bezieht sich nicht auf eine theoretische Möglichkeit, sondern auf eine realistische, medizinisch begründete Aussicht auf Besserung.
Das Gesetz enthält zudem eine wichtige Vermutungsregel: Nach insgesamt neun Jahren befristeter Bewilligung ist regelmäßig davon auszugehen, dass eine Besserung unwahrscheinlich ist; dann ist auf Dauer zu leisten, sofern der Anspruch unabhängig von der Arbeitsmarktlage besteht.
Die interne Rechtsanwendungspraxis der Deutschen Rentenversicherung konkretisiert diesen Maßstab: Dauerrenten kommen nur im Ausnahmefall in Betracht; umgekehrt sind sogenannte „Arbeitsmarktrenten“ – also Renten, die allein wegen fehlender Vermittlungsmöglichkeit am Arbeitsmarkt gewährt werden – stets befristet.
Diese Differenzierung unterstreicht, dass allein die medizinische Beurteilung der Leistungsfähigkeit für die Frage „Dauer oder Befristung“ maßgeblich ist.
Das Urteil des LSG Hamburg: Klarheit über die Schwelle zur Dauerrente
Das LSG Hamburg bestätigt die Leitlinie, dass bei fehlender realistischer Besserungsperspektive eine unbefristete Bewilligung geboten ist. Der Senat stützt sich auf die erstinstanzlich erhobenen medizinischen Beweise und nimmt eine dauerhafte Erwerbsminderung an.
Im entschiedenen Fall lagen schwerwiegende psychische Störungen vor; nach den gerichtlich eingeholten Gutachten war der Kläger auf nicht absehbare Zeit nicht in der Lage, auch nur drei Stunden täglich zu arbeiten. Eine relevante Steigerung der Leistungsfähigkeit erschien medizinisch nicht erreichbar – damit war die Schwelle zum Ausnahmefall der Dauerrente überschritten.
Bemerkenswert ist, dass das Gericht die gesetzliche Befristungslogik nicht relativiert, sondern anhand der konkreten Beweislage konsequent anwendet: Wo die Fachgutachten eine belastbare Besserungsprognose verneinen, endet die Befristungstrias.
Diese Linie fügt sich in die juristische Kommentierung, die das „Unwahrscheinlichkeitskriterium“ des § 102 Abs. 2 S. 5 SGB VI als maßgeblich für die Dauerrente herausstellt und das Hamburger Urteil exemplarisch zitiert.
Medizinische Prognose als Dreh- und Angelpunkt
Die Entscheidungspraxis zeigt: Nicht die Diagnose als solche, sondern die Prognose der Leistungsfähigkeit ist entscheidend. Maßgeblich ist, ob eine Behandlung – konservativ, psychotherapeutisch, rehabilitativ oder operativ – mit vernünftiger Wahrscheinlichkeit zu einer rentenrechtlich relevanten Besserung führen kann.
Fehlt diese Aussicht, und stützen konsistente, nachvollziehbare Gutachten diese Einschätzung, kippt der Regelfall der Befristung in den Ausnahmefall der Dauerrente. Die Hamburger Entscheidung illustriert diese Prognosezentrierung besonders deutlich.
Abgrenzung: Arbeitsmarktlage und „Arbeitsmarktrente
Für die Frage „Dauer oder Befristung“ spielt der Arbeitsmarkt keine Rolle, soweit es um die medizinische Erwerbsminderung geht. Der Gesetzestext verlangt ausdrücklich die Beurteilung „unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes“ – die tatsächliche Arbeitsmarktlage bleibt unberücksichtigt.
Nur dort, wo eine volle Erwerbsminderungsrente allein wegen fehlender Vermittlungschancen („Arbeitsmarktrente“) gewährt wird, ist die Befristung zwingend; eine Dauerrente scheidet dann aus. Diese Systematik verhindert, dass konjunkturelle Schwankungen oder regionale Vermittlungsprobleme die Dauerentscheidung steuern.
Übergang in die Altersrente
Erwerbsminderungsrenten werden bis zur Regelaltersgrenze gezahlt. Mit Erreichen dieser Grenze geht die Leistung grundsätzlich ohne gesonderten Antrag in die Regelaltersrente über, sofern die versicherte Person nichts anderes bestimmt.
Dieser automatische Übergang ist in § 115 Abs. 3 SGB VI geregelt und dient der Verfahrensvereinfachung. Für Betroffene bedeutet das: Auch eine als Dauerrente bewilligte EM-Rente endet nicht „irgendwann vorher“, sondern läuft – vorbehaltlich sonstiger gesetzlicher Änderungen – bis zur Regelaltersgrenze und wird dann als Regelaltersrente fortgeführt.
Konsequenzen für die Praxis
Das Hamburger Urteil schafft für die Praxis Transparenz: Eine Dauerrente ist kein Automatismus, aber sie ist zwingend zu bewilligen, wenn belastbare medizinische Befunde eine rentenrechtlich relevante Besserung unwahrscheinlich erscheinen lassen.
Wer bereits mehrfach befristet bewilligt wurde, sollte die Neun-Jahres-Vermutung kennen; sie erleichtert den Übergang in eine unbefristete Leistung, sofern der Anspruch nicht von der Arbeitsmarktlage abhängt. Ärztliche Verlaufsberichte, konsistente Fachgutachten und die Dokumentation ausgeschöpfter Therapieoptionen sind in diesem Kontext die maßgeblichen Bausteine, um die Prognosefrage rechtssicher zu beantworten.
Was bedeutet das nun für Betroffene?
Die Erwerbsminderungsrente als Dauerrente bleibt die Ausnahme – aber eine rechtlich verpflichtende Ausnahme, wenn medizinisch keine realistische Besserung zu erwarten ist. Das LSG Hamburg betont diese Linie mit deutlicher Begründung und fügt sich damit nahtlos in den Wortlaut und Zweck des Gesetzes ein.
Für Betroffene ist entscheidend, den Fokus auf die Prognose zu richten: Wo die Leistungsfähigkeit auf nicht absehbare Zeit unter drei Stunden täglich bleibt und eine rentenrechtlich relevante Steigerung unwahrscheinlich ist, führt der Weg aus der turnusmäßigen Befristung in die unbefristete Dauerrente.
Rechtsgrundlagen und Quellen: § 43 SGB VI (Definition der vollen Erwerbsminderung), § 102 Abs. 2 S. 5 SGB VI (Befristung, Kriterien und Neun-Jahres-Vermutung), § 115 Abs. 3 SGB VI (automatischer Übergang in die Regelaltersrente), interne Anwendungshinweise der Deutschen Rentenversicherung zur Befristung/Dauerrente sowie das Urteil des LSG Hamburg vom 15. 08. 2023 (L 3 R 74/21).




