Warum die Sozialhilfe ungerechter als das Bürgergeld ist

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Mit der Einführung des Bürgergelds hat der Gesetzgeber das frühere Hartz-IV-System neu geordnet. Die Reform sollte entlasten, fördern und bürokratische Hürden abbauen. Doch ein großer Teil der Menschen im unteren Einkommensbereich profitiert davon kaum.

Wer fällt durch das Raster der Förderungen?

Empfängerinnen und Empfänger der Sozialhilfe – darunter ältere Menschen, Erwerbsgeminderte und chronisch Kranke – fallen durch das Raster der Modernisierung. Förderungen und Verbesserungen, die im Bürgergeld gelten, fehlen bei den Leistungen der Sozialämter.

Ein sozialpolitischer Flickenteppich

Die Ungleichbehandlung zwischen beiden Systemen ist strukturell bedingt: Sozialhilfe folgt überwiegend noch der Logik des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) der 1990er-Jahre, während das SGB II mit dem Bürgergeld zuletzt mehrfach modernisiert wurde. Das Ergebnis ist ein sozialpolitischer Flickenteppich mit erheblichen Gräben – sowohl finanziell als auch organisatorisch.

Geringere Anreize, kaum Förderung – eine strukturelle Lücke

Jobcenter verfügen über diverse Förderinstrumente: Aktivierungsprogramme, Umschulungen, Weiterbildungen, Eingliederungszuschüsse und psychologische Unterstützung. Für Bürgergeld-Beziehende sind diese Leistungen gesetzlich verankert.

Stillstand ohne Perspektive

Sozialämter hingegen haben keine vergleichbaren Instrumente. Ihre Aufgabe ist nicht, Erwerbsfähigkeit zu fördern, sondern den Lebensunterhalt sicherzustellen. Dadurch geraten junge erwerbsgeminderte Menschen oder ältere Leistungsberechtigte in eine Art Stillstand – ohne Perspektive auf gesellschaftliche Teilhabe oder berufliche Reintegration.

(Arbeits-)Förderung der Jobcenter kann sich positiv auf das gesamte Leben auswirken

Die Förderprogramme der Jobcenter dienen primär dazu, erwerbsfähige Hilfebedürftige wieder fit für den allgemeinen Arbeitsmarkt zu machen. Allerdings können Programme zur Weiterbildung, psychosoziale Betreuung und die Analyse vielschichtiger Probleme den Betroffenen auch in ihrem Alltag helfen.

Bei der Sozialhilfe fehlen diese Programme, und das hat Folgen für den Alltag der Betroffenen. Praxisbeispiel: Ein 48-jähriger Mann mit chronischem Rückenleiden gilt als teilweise erwerbsgemindert. Das Jobcenter stuft ihn als dauerhaft arbeitsunfähig ein, sodass er ins SGB XII rutscht.

Dort erhält er zwar den Regelsatz, aber keinerlei Angebote zur Stabilisierung seiner Gesundheit oder für eine berufliche Umschulung, die ihn wieder arbeitsfähig machen könnte.

Unterschiedliche Regeln beim Schonvermögen: Bürgergeld deutlich großzügiger

Das Schonvermögen ist einer der zentralen Punkte, an denen die Ungleichbehandlung besonders sichtbar wird. Beim Bürgergeld gilt während der einjährigen Karenzzeit ein Schonvermögen von vierzigtausend Euro für die erste Person der Bedarfsgemeinschaft und fünfzehntausend Euro für jede weitere Person. Auch nach der Karenzzeit bleiben fünfzehntausend Euro pro Person geschützt.

Zusätzlich gelten: Schutz von Riester-Renten und anderen zertifizierten Altersvorsorgeverträgen, Schutz eines angemessenen selbstgenutzten Eigenheims, Schutz von Vermögenswerten für notwendige Anschaffungen.

Weniger Schonvermögen in der Sozialhilfe

In der Sozialhilfe dagegen gilt ein Schonvermögen von lediglich zehntausend Euro pro Person, und zwar ohne Karenzzeit und mit deutlich engeren Kriterien. Viele Vermögensformen, die im Bürgergeld als geschützt gelten, müssen im SGB XII verwertet werden.

Ein konkretes Beispiel: Eine 62-jährige Frau besitzt eine Kapitallebensversicherung mit einem Rückkaufswert von elftausend Euro. Für das Bürgergeld wäre diese Rücklage – insbesondere bei Nähe zum Rentenalter – geschützt. In der Sozialhilfe muss sie die Versicherung kündigen und verwerten, bevor sie Leistungen erhält.

Wohnkosten: Sozialhilfe ohne Schonfrist – oft mit Wohnungsrisiko

Während Bürgergeld-Beziehende in der Anfangsphase geschützt sind und ihre Mietkosten in tatsächlicher Höhe erstattet bekommen, gilt bei der Sozialhilfe: keine Karenzzeit, sofortige Prüfung, und das oft innerhalb weniger Wochen.

Praxisbeispiel: Ein 68-jähriger Witwer lebt seit Jahrzehnten in derselben Wohnung. Das Sozialamt stuft die Miete als unangemessen ein. Obwohl ein Umzug körperlich kaum zumutbar wäre, kürzt die Behörde nach kurzer Frist die Kosten. Der Mann muss seine Ersparnisse einsetzen – die Gefahr eines späteren Wohnungsverlusts steigt.

Gesundheitskosten: Lückenhafte Absicherung in der Sozialhilfe

Bürgergeld-Beziehende haben bessere Möglichkeiten, medizinisch notwendige, aber nicht von den Krankenkassen abgedeckte Leistungen über die Härtefallregelung geltend zu machen. In der Sozialhilfe hängt dies hingegen oft vom Ermessen einzelner Kommunen ab.

Bürokratie: Zwei Systeme – zwei unterschiedliche Kulturen

Jobcenter wurden digital modernisiert, für Sozialämter gilt dies vielerorts nicht. Das führt zu langen Wartezeiten, Papierformularen und wiederholten Prüfungen selbst bei stabilen Lebenslagen.

Bürgergeld Sozialhilfe (SGB XII)
Schonvermögen bis zu vierzigtausend Euro Schonvermögen von zehntausend Euro
Karenzzeit bei Wohnkosten Sofortige Prüfung
Umfassende Fördermöglichkeiten Kaum Förderinstrumente
Einheitliche Strukturen Kommunale Unterschiede
Schutz von Altersvorsorge Viele Rücklagen müssen verwertet werden

Verschärfungen der Neuen Grundsicherung ab 2026

Mit der geplanten Reform zur Neuen Grundsicherung, die das aktuelle Bürgergeld ersetzen soll, treten eine Reihe von deutlich strengeren Regelungen in Kraft.

Zu den wichtigsten Änderungen zählen einheitliche und schärfere Sanktionen: Jede Pflichtverletzung – etwa Terminversäumnisse – kann ab sofort eine Kürzung der Leistungen von 30 Prozent bedeuten. Bisherige Staffelungen entfallen.

Gedeckelte Wohnkosten

Gedeckelte Wohnkosten: Die Kosten für Unterkunft und Heizung werden im ersten Jahr nur noch bis zum eineinhalbfachen Wert der örtlichen Angemessenheitsgrenze übernommen. Darüber hinausgehende Kosten muss der Betroffene selbst tragen, auch mit Umzug oder Mietsenkung.

Strengere Mitwirkungspflichten

Strengere Mitwirkungspflichten: Leistungsbeziehende müssen ihre Arbeitskraft stärker einsetzen, Weiterbildungen oder gemeinnützige Tätigkeiten werden verbindlicher. Sofortige Vermögensprüfung und verschärfte Freibeträge: Die bisher bestehenden Schonvermögen werden reduziert, Vermögen und Rücklagen werden früher und schärfer geprüft.

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Fordern statt fördern

Diese Maßnahmen zeigen eine klare Stoßrichtung: Das System soll wieder stärker fordern, weniger Ruhephasen zulassen und Leistungen noch intensiver an Bedingungen knüpfen als bisher.

Wachsende Armut und Wohnungsnot drohen aufgrund der verschärften Regeln, insbesondere bei Menschen mit eingeschränkter Arbeitsfähigkeit. Vor allem Menschen mit psychosozialen Problemen haben vermutlich noch härtere Sanktionen zu erwarten.

Ein System mit eingebauter Schieflage

Die beschriebenen Unterschiede sind kein technisches Detail, sondern spiegeln eine Grundhaltung der deutschen Sozialpolitik wider: Erwerbsfähige gelten als „förderungswürdig“, nicht Erwerbsfähige als „verwaltungswürdig“.

Während Bürgergeld-Empfänger immerhin als potenziell aktivierbare Arbeitskräfte gesehen werden – und damit politische Aufmerksamkeit erhalten –, geraten Sozialhilfe-Beziehende an den Rand des Systems.

Strenge Regeln treffen die Schwächsten

Gerade diese Gruppierung ist jedoch die sozial schwächste der Gesellschaft: Menschen, die krank, älter oder dauerhaft beeinträchtigt sind. Sie haben die geringsten Möglichkeiten, ihre Lage zu verändern. Dass ausgerechnet sie strengere Vermögensprüfungen, weniger Förderung und härtere Wohnkostenregeln hinnehmen müssen, erscheint widersprüchlich zu dem Gedanken eines solidarischen Sozialstaats.

Verwaltungsrecht und sozialpolitische Schieflage

Die Argumentation, dass Kommunen und Bund unterschiedliche Zuständigkeiten haben, mag verwaltungsrechtlich korrekt sein. Sozialpolitisch rechtfertigt sie jedoch nicht, warum das Bürgergeld modernisiert und die Sozialhilfe quasi eingefroren wird. Dadurch entsteht eine Reformschere, deren Folgen Betroffene jeden Tag spüren – etwa dann, wenn sie Rücklagen auflösen müssen, die eigentlich der Altersvorsorge dienen.

Kurz gesagt: Die Sozialhilfe ist ein System mit eingebauter Schieflage – und diese Schieflage trifft genau jene Menschen, die strukturell am wenigsten belastbar sind. Eine grundlegende Reform wäre nicht nur sinnvoll, sondern überfällig.

Soziale Stigmatisierung von Sozialhilfe- und Bürgergeldbeziehern

Die soziale Stigmatisierung der Empfänger von Sozialleistungen ist ein weit verbreitetes Phänomen und wurzelt tief in gesellschaftlichen Vorstellungen von Leistung, Verantwortung und wirtschaftlicher Teilhabe. Ebenso nährt es sich aus Unkenntnis über die Strukturen gesellschaftlicher Probleme.

Menschen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, sehen sich häufig mit Vorurteilen konfrontiert – etwa der Annahme, sie seien „arbeitsscheu“, „unproduktiv“ oder selbst für ihre Situation verantwortlich.

Vorwürfe statt Unterstützung

Diese Zuschreibungen betreffen Sozialhilfe- und Bürgergeldbezieher gleichermaßen. Bürgergeld-Bezieher sehen sich allerdings zusätzlich dem Vorwurf ausgesetzt, sie könnten arbeiten, wollten dies aber nur nicht.

Solche pauschalen Unterstellungen ignorieren strukturelle Faktoren wie Arbeitsmarktbedingungen, gesundheitliche Einschränkungen, fehlende soziale Netzwerke oder unzureichende Bildungsangebote.

Diskriminierung und Isolation

Bürgergeld-Bezieher und Sozialhilfe-Empfänger berichten beide von diskriminierenden Erfahrungen in Behörden, im Gesundheitswesen oder beim Zugang zu Wohnraum. Viele von ihnen misstrauen deshalb Mitarbeitern der Behörden oder fürchten den Gang zu den Ämtern.

Die damit verbundene Scham kann dazu führen, dass Menschen ihnen zustehende Unterstützung nicht nutzen, sich ihre soziale Isolation verstärkt und sich bestehende Armutslagen weiter verfestigen.

FAQ: Häufige Fragen zum Thema

Warum existiert die Ungleichbehandlung überhaupt?
Weil Bürgergeld und Sozialhilfe unterschiedliche Zielgruppen haben – und die Sozialhilfe politisch weniger Priorität erhält.

Wer landet typischerweise in der Sozialhilfe?
Ältere Menschen, chronisch Kranke, Erwerbsgeminderte, Menschen mit Behinderungen oder sehr geringe Renten.

Sind die Regelsätze identisch?
Formal ja. Doch unterschiedliche Freibeträge und Wohnkostenregeln führen de facto zu verschiedenen Lebensrealitäten.

Kann man von der Sozialhilfe ins Bürgergeld wechseln?
Nur, wenn Erwerbsfähigkeit gegeben ist. Für viele Betroffene trifft das nicht zu.

Fazit

Das Bürgergeld wurde modernisiert und stärkt diejenigen, die ihre Lage noch verändern können. Die Sozialhilfe dagegen bleibt zurück – und trifft genau die, die am wenigsten Handlungsspielraum haben. Mit der kommenden Umstellung auf die Neue Grundsicherung steht nun – anders als die Modernisierung beim Bürgergeld selbst – eine Reform an, die vor allem Verschärfungen für Bürgergeld-Bezieher bringt.

Die zukünftigen Empfänger der Neuen Grundsicherung erwarten also neue Härten statt die Härten bei der Sozialhilfe zu lindern. Ein gerechter Sozialstaat darf diese strukturelle Ungleichheit und die Annäherung an das gleiche Schlechte nicht dauerhaft hinnehmen.

Eine grundlegende Reform der Grundsicherung ist dringend notwendig. Um die Dynamik der ständigen Verschlechterung der Lebensbedingungen der Ärmsten der Gesellschaft zu durchbrechen, braucht es eine öffentliche Debatte, die Vorurteile hinterfragt, strukturelle Ursachen in den Blick nimmt und gesellschaftliche Solidarität in den Vordergrund stellt.