Sparpaket nicht gestoppt โ Was ist los mit den sozialen Bewegungen? "Heiรer Herbst" blieb aus
Von Martin Behrsing (Sprecher Erwerbslosen Forum Deutschland)
(Berlin, 29.11.2010). Am 26. November das "Sparpaket stoppen! Bundestag belagern!", so lautete der Aufruf des Berliner Bรผndnisses "Wir zahlen nicht fรผr Eure Krise". Die Absicht: Am letzten Tag der Haushalteberatungen in die Bannmeile des Bundestags einzudringen und den Abgeordneten rote Karten fรผr ihre hรถchst unsozialen Kรผrzungen zu Lasten von ausschlieรlich armen Menschen zu zeigen, wรคhrend die Profiteure der Krise weiterhin belohnt werden. Doch dazu kam es nicht.
Seit Monaten mobilisierte ein Bรผndnis aus Gewerkschaften, Linkspartei, linken Gruppen, Schรผler, Studierenden, Erwerbslosen hin auf den Tag "X". Angesichts der Breite der unterstรผtzenden Organisationen und vielen Einzelpersonen waren die Erwartungen groร und wurden nicht im Ansatz erfรผllt. "Ohne die Beteiligung der Schรผler wรคre die Aktion ein totales Desaster geworden" โ so das Urteil eines Erwerbslosenaktivisten gegenรผber dem "Freitag" (27.November). Mehrere Tausend Menschen hatten zunรคchst an einer Kundgebung vor dem Brandenburger Tor teilgenommen, spรคter setzte sich dann ein Demonstrationszug in Richtung Groรer Stern in Bewegung. Ein Drittel der etwa 2.000 bis 3.000 Teilnehmer waren Berliner Schรผler, die dem Aufruf des Bรผndnisses "Bildungsblockaden einreiรen" gefolgt waren. Bei dieser fรผr Berliner Verhรคltnisse sehr geringen Resonanz konnte von einer Bundestagsbelagerung nicht im Ansatz die Rede sein. Zudem verhinderte der massive Polizeieinsatz jeden Versuch, auch nur in die Nรคhe des Bundestags zu gelangen. So konnte Schwarz-Gelb auch ihr Kรผrzungspaket beschlieรen, ohne etwas von den Protestaktionen mit zubekommen. Die roten Karten wurden dann schlieรlich an der Siegessรคule, weit ab vom Regierungsviertel gezeigt. Auch die fรคlschlicherweise verkรผndete Durchsage, Teilnehmerinnen und Telnehmer hรคtten die CDU-Bundesparteizentrale besetzt, fรผhrte nur dazu, dass Einsatzkrรคfte der Polizei sehr schnell die Parteizentrale abriegelten, so dass es erst gar nicht zu einer Besetzung kommen konnte und gut 800 Aktivistinnen und Aktivisten allenfalls den Verkehr fรผr einige Zeit lahm legen konnten. Eine Besetzung hatte zu keinem Zeitpunkt stattgefunden.
Nach der abgesagten Bankenblockade (18. Oktober) in Frankfurt am Main, der "Kaumbeteiligung" der Belagerung des Landesparteitages der CDU-NRW in Bonn am 6. November, sollte der der "Tag X" der Hรถhepunkt des heiรen Herbst der sozialen Bewegungen sein. Doch mit dem am Freitag einsetzenden Winter, blieb dieser Tag dann doch sehr kalt. Die radikale Linke blieb auch diesmal wieder weitgehend unter sich, obwohl die eher gemรครigte Partei "DIE LINKE" den Tag als wichtig proklamierte und Gregor Gysi als Top-Act ins Rednerpult schickte. Aber auch ihr gelang es nicht, nennenswerte Mitgliederbeteiligung zu mobilisieren.
Was ist los mit den sozialen Bewegungen?
Warum finden die Aufrufe der sozialen Bewegungen so wenig Resonanz bei den Betroffenen? An einer abnehmenden Protestkultur kann es kaum liegen, denn die Proteste gegen den Umbau des Stuttgarter Bahnhofs oder den Castortransport zeigen ein anderes Bild. Es mรถgen viele Grรผnde zur Verteidigung angefรผhrt werden: der einsetzende Winter, die Heterogenitรคt von Erwerbslosen, die Separation von Hartz IV-Beziehern, die mit Hรคme angefรผhrte Behauptungen, wonach es den Betroffenen noch nicht schlecht genug zu gehen scheint, ein dominanter Einfluss linker Gruppierungen, ein schier รผberschaubare und zum Teil konkurrierender Aktivistengruppen, kaum Beteiligung der Gewerkschaften und vieles mehr. Sie erklรคren aber keineswegs das Fernbleiben der Menschen, die von den Kรผrzungen unmittelbar betroffen sind. Unsere europรคischen Nachbarstaaten zeigen jedoch ein anderes Bild, wenn es um Einschnitte im Sozialbereich geht. Einzig die Demonstration der Erwerbslosen "Krach schlagen statt Kohldampf schieben โ Mindestens 80 Euro fรผr Lebensmittel sofort!" am 10. 10. in niedersรคchsischen Oldenburg schien ein Erfolg โ auch medial โ fรผr die sozialen Bewegungen und besonders fรผr die Erwerbslosenbewegung zu sein. Aber auch hier: 3.000 Teilnehmer sind fรผr die herrschende Klasse nicht mal im Ansatz ein Bedrohungspotential, dass sie zu Verรคnderungen in ihrer Politik bewegt. Dennoch zeigte dieser Protest, dass es nicht um Beliebigkeit von Themen geht, sondern die Konzentration auf das Wesentliche, nรคmlich die Existenzsicherung von Produzenten und Konsumenten versus Preisdiktat der Billigdiscounter, somit um die Ernรคhrung mit Sozialleistungen sowie die Bedingungen und des Einkommen der Erzeuger deren Beschรคftige geht. Somit um die soziale Frage.
Was also lernen vom scheinbar erfolgreichen Protest gegen Stuttgart21, dem Castor-Transport oder unseren europรคischen Nachbarn? Gibt es ein Crossover zwischen den verschiedenen Protesten und ihrem gesellschaftlichen Hintergrund?
Darรผber diskutierten anlรคsslich der linken Literaturmesse (19. November) Martin Behrsing vom Erwerbslosenforum Deutschland, Michael Prรผtz (Berliner Bรผndnis ยปWir zahlen nicht fรผr eure Kriseยซ), Paul Sandner (Schmetterling-Verlag und Aktivist der Bewegung gegen Stuttgart 21) sowie Michael Wilk (Arbeitskreis Umwelt Wiesbaden und aktiv in der Anti-AKW-Bewegung). Auch hier stellte sich sehr schnell heraus, die soziale Frage verbindet die verschiedenen Bewegungen nicht. Die erfolgreichen Proteste gegen Stuttgart21, den Castor-Transporten oder Anti-Nazi-Demonstrationen werden eher von der bรผrgerlichen Mittelschicht getragen und haben keineswegs eine linke Perspektive, sondern sind allenfalls radikal-demokratisch (Paul Sander). Dies erklรคrt auch den derzeitigen Sympathieaufschwung fรผr Bรผndnis 90/Die Grรผnen. Auch eine Betrachtung der Protestbewegungen und Bรผrgerinitiativen seit den 70iger Jahren zeigt immer wieder auf, erfolgreicher Protest fand nur dann statt, wenn sich die bรผrgerliche Mitte beteiligte und die soziale Frage nicht im Vordergrund stand. Es scheint, das Auslassen der sozialen Frage ist eine psychologische Abwehrhaltung, um der Angst gegen den Verlust der eigenen Klasse zu begegnen. Mithin scheinen die Verleugnungen der realen Armut von vielen Vertretern der bรผrgerlichen intellektuellen Schicht erklรคrbar und erklรคrt auch, warum es sozialen Bewegungen kaum gelingt, nennenswerten Protest zu mobilisieren. Deklassierte resignieren eher als sich zu wehren. Es kommt somit drauf an, in wie weit es den sozialen Bewegungen gelingen kann, exponierte Vertreter der bรผrgerlichen Mitte fรผr das Anliegen der Deklassierten zu gewinnen, um die soziale Frage als das solidarisch verbindende Element weiter Teile unser Gesellschaft in den Vordergrund zu rรผcken, ohne sich von der bรผrgerlichen Mitte vereinnahmen zu lassen. (Elo-Forum)