Eine schwerkranke 62-jährige Frau steht in Wuppertal kurz vor dem Verlust ihrer Wohnung, weil das örtliche Jobcenter sämtliche Leistungen nach dem SGB II für neun Monate gestrichen hat. Der Fall, den der Verein Tacheles e.V. öffentlich macht, zeigt, wie skrupellos das Jobcenter in Wuppertal agiert.
Chronologie eines Behördenversagens
Das Jobcenter forderte von der Betroffenen einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente zu stellen. Weil die Betroffene – Analphabetin und mobil eingeschränkt – versehentlich das falsche Formular benutzte, wertete das Jobcenter dies als fehlende Mitwirkung und erließ am 6. März 2025 einen Versagungs- und Entziehungsbescheid nach § 66 SGB I.
Obwohl die Frau am 1. April den korrekten Rentenantrag stellte und den Nachweis am Folgetag einreichte, blieb die Leistung gesperrt.
Nach Darstellung von Tacheles reagierten weder Team- noch Geschäftsstellenleitung, selbst als der Verein am 8. Mai einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X stellte und dienstrechtliche Schritte anregte.
Die Folgen sind akut: Zwei offene Mieten bedrohen das Mietverhältnis, Krankenversicherungsschutz besteht nicht mehr, und die Betroffene äußert Suizidgedanken.
Mitwirkungspflichten als Fallstrick
Rechtlich stützt sich das Jobcenter auf § 66 SGB I, der Leistungskürzungen bis hin zum Entzug erlaubt, wenn Versicherte ihre Mitwirkungspflichten verletzen. Fachanwälte betonen jedoch, dass die Aufforderung, eine Rente zu beantragen, keine klassische Mitwirkungspflicht im Sinne der §§ 60 ff. SGB I ist.
Zudem hätte das Amt nach § 5 Abs. 3 SGB II den Rentenantrag selbst stellen können, zumal hier erhebliche gesundheitliche und kognitive Einschränkungen offenlagen.
Totalentzug kontra Rechtsprechung
Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 gilt: Kürzungen dürfen grundsätzlich 30 Prozent des Regelbedarfs nicht überschreiten; weitergehende Sanktionen sind verfassungswidrig, weil sie das menschenwürdige Existenzminimum antasten.
Dass Wuppertaler Sachbearbeiterinnen dennoch zur drakonischsten Maßnahme griffen, deutet auf Defizite in Schulung und Kontrolle hin. Studien zur Bürgergeld-Reform zeigen, dass selbst Jobcenter-Beschäftigte die neue, mildere Sanktionspraxis skeptisch sehen – doch sie akzeptieren den 30-Prozent-Korridor als Obergrenze.
Wiederkehrende Kritik am Jobcenter Wuppertal
Tacheles erhebt seit Jahren Vorwürfe gegen das lokale Jobcenter. Zuletzt bemängelte der Verein, dass dessen Beschwerdebericht 2024 kaum nachvollziehbare Daten enthalte und wenig Reformbereitschaft erkennen lasse.
Tacheles-Sprecher Harald Thomé nennt den aktuellen Bescheid „rechtswidrig in jeder Hinsicht“ und verlangt nicht nur sofortige Nachzahlung, sondern auch dienstrechtliche Konsequenzen: „Wer sehenden Auges eine Wohnungskündigung und den Verlust der Krankenversicherung riskiert, hat im Bereich der Existenzsicherung nichts verloren.“ Eine offizielle Stellungnahme des Jobcenters lag bis Redaktionsschluss nicht vor; Anfragen blieben unbeantwortet.
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Menschenwürde versus Verwaltungsermessen
Thome´ verweist darauf, dass § 66 SGB I ein Ermessen eröffnet, das gerade bei gesundheitlich eingeschränkten Personen äußerst zurückhaltend auszuüben ist. Spätestens nach der Nachholung der Mitwirkung hätte die Behörde die Leistung umgehend wiedergewähren müssen. Unterlässt sie dies, drohen Schadensersatz- und Amtshaftungsansprüche.
Der Fall zeigt einmal mehr, wie fragil das Existenzsicherungssystem bleibt. Die Bürgergeld-Reform hat viele Stellschrauben verändert, die Grundfrage aber nicht gelöst: Wie lässt sich die Balance zwischen „Fordern und Fördern“ wahren, ohne das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Leben zu verletzen? Sozialverbände fordern seit dem Karlsruher Urteil verbindliche Leitlinien, die Totalentzüge ausschließen.
Wie gehts jetzt weiter?
Der Überprüfungsantrag läuft, eine Klage vor dem Sozialgericht Wuppertal gilt als wahrscheinlich. Sollte das Jobcenter nicht umgehend einlenken, droht neben dem persönlichen Drama eine neue juristische Klatsche für die Behörde.
Für die Betroffene zählt indes jeder Tag. Ohne schnelle Entscheidung könnten Wohnung und Gesundheit irreversibel verloren gehen. Dass es so weit kommen konnte, sei „ein krasses Behördenversagen“, bilanziert Tacheles.
Bleibt abzuwarten, ob die neue Jobcenter-Leitung den Fall noch rechtzeitig stoppt – oder ob ein weiteres Kapitel in der langen Geschichte der Debatten um unverhältnismäßige Sanktionen geschrieben wird.