Viele Betroffene haben nicht nur ein Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis, sondern mehrere. Genau hier liegen oft ungenutzte Chancen โ aber auch Missverstรคndnisse. Denn: Merkzeichen wirken wie Bausteine.
Manche Vorteile addieren sich, andere setzen ein bestimmtes Merkzeichen zwingend voraus, wieder andere bringen alleine gar nichts, verbessern aber die Wirkung der รผbrigen Bausteine.
Grundprinzip: Bausteine statt โalles oder nichtsโ
Jedes Merkzeichen steht fรผr konkrete Nachteilsausgleiche. Sie greifen in unterschiedlichen Bereichen โ Mobilitรคt (รPNV, Parken), Steuern, Begleitung/Assistenz, Kommunikation oder Rundfunkbeitrag.
Mehrere Merkzeichen bedeuten nicht automatisch doppelte Leistungen, aber zugeschnittene Pakete, die sich in der Praxis stark unterscheiden. Wichtig: B ist kein โeigenesโ Leistungsmerkmal, sondern รถffnet Begleitrechte zusรคtzlich zu anderen Ansprรผchen.
RF betrifft ausschlieรlich den Rundfunkbeitrag. H, Bl, Gl und TBl haben Sonderregeln, die andere Kosten (z. B. Wertmarke im Nahverkehr) beeinflussen.
Vier typische Kombinationen im Alltag
1) G + B โ Mobil, aber mit notwendiger Begleitung
Praxisbild: Deutliche Einschrรคnkung der Gehfรคhigkeit, Treppen/Wege nur langsam und unter Schmerzen; im รPNV ist eine Begleitperson notwendig (z. B. wegen Gleichgewichts- oder Orientierungsproblemen).
Was sich addiert:
Freifahrt im Nahverkehr mit Wertmarke (fรผr G mรถglich).
Begleitperson fรคhrt kostenlos mit, sobald โBโ eingetragen ist.
Steuerlich: Grad der Behinderung (GdB) โ Behinderten-Pauschbetrag; zusรคtzlich Fahrtkosten (z. B. auรergewรถhnliche Belastungen) sind besser begrรผndbar.
Grenzen:
Parken: โGโ allein vermittelt keine Behindertenparkplรคtze (blau). Parkerleichterungen (orange) sind regional mรถglich, aber an weitere Voraussetzungen geknรผpft.
Fernverkehr: Freifahrtregel gilt dort nicht wie im Nahverkehr; die Begleitperson kann je nach Regelung zwar kostenfrei mitfahren, die/der Ausweisinhaber:in braucht ein eigenes Ticket.
2) aG + B โ auรergewรถhnlich gehbehindert mit Begleitung
Praxisbild: Sehr stark eingeschrรคnkte Gehfรคhigkeit, Wegstrecken sind nur kรผrzest und mit erheblicher Hilfe machbar.
Was sich addiert:
Blauer EU-Parkausweis und damit Behindertenparkplรคtze, lรคngeres Halten/Parken im Ausnahmefall, kรผrzere Wege zum Ziel.
Begleitperson fรคhrt im รPNV kostenlos mit; die/der Betroffene nutzt mit Wertmarke die Freifahrt im Nahverkehr.
Steuerliche Entlastung durch Behinderten-Pauschbetrag, teils Kfz-bezogene Vorteile (z. B. Kfz-Steuerermรครigung) bei entsprechender Zweckbindung.
Grenzen:
B verschafft keine zusรคtzlichen Parkrechte โ die kommen รผber aG.
Auch hier gilt: Fernverkehr โ Nahverkehr. Rechte sind zu trennen und korrekt zu beantragen/buchen.
3) H + RF โ hilflos und beim Rundfunkbeitrag begรผnstigt
Praxisbild: Hilflosigkeit im Sinne des Steuerrechts/Versorgungsrechts, d. h. regelmรครige Hilfe in allen Lebensbereichen. Zusรคtzlich ist RF (Rundfunk) eingetragen.
Was sich addiert:
RF wirkt exklusiv im Rundfunkbeitrag (Ermรครigung/Befreiung gemรคร Regelwerk).
H bringt weitreichende steuerliche Vorteile (u. a. erhรถhter Behinderten-Pauschbetrag bzw. Pflege-Pauschbetrag in bestimmten Konstellationen).
รPNV: Bei H ist die Wertmarke kostenfrei; damit Freifahrt im Nahverkehr ohne Zusatzkosten.
Grenzen:
RF hat keine Wirkung auf Mobilitรคt oder Steuern; es โziehtโ nur beim Rundfunkbeitrag.
H allein ersetzt keine Begleitberechtigung โ dafรผr braucht es ggf. B.
4) Bl + B โ blind und mit Begleitperson unterwegs
Praxisbild: Blindheit mit erheblichem Orientierungsbedarf; die Unterstรผtzung einer Begleitung ist regelmรครig erforderlich.
Was sich addiert:
Kostenlose Wertmarke (bei Bl), damit Freifahrt im Nahverkehr; Begleitperson fรคhrt unentgeltlich mit.
Steuern: Hรถchst-Pauschbetrag fรผr Blinde; weitere Hilfsmittel- und Fahrtkosten sind gut belegbar.
Kommunikation & Teilhabe: Anspruch auf Assistenz/Leistungen zur Mobilitรคt kann leichter begrรผndet werden.
Grenzen:
B erweitert nicht automatisch die Parkrechte. Blindheit allein vermittelt keine aG.
Bei Fernreisen gelten eigene Regeln der Verkehrsunternehmen โ vorher klรคren.
รbersicht der Kombinationswirkungen (Kurzvergleich)
| Kombination | Zentrale Vorteile | Typische Grenzen |
| G + B | Freifahrt im Nahverkehr (mit Wertmarke) + kostenlose Mitnahme der Begleitperson; bessere Begrรผndung fรผr Fahrtkosten/Assistenz | Keine blauen Parkplรคtze; Fernverkehr separat regelt |
| aG + B | Blauer EU-Parkausweis; Freifahrt (Wertmarke); Begleitperson kostenlos | B bringt keine Extra-Parkrechte; Fernverkehr โ Nahverkehr |
| H + RF | Steuerlich starke Entlastungen; kostenlose Wertmarke; RF wirkt beim Rundfunkbeitrag | RF wirkt nur im Rundfunk; B ggf. zusรคtzlich nรถtig |
| Bl + B | Kostenlose Wertmarke, Freifahrt; Begleitung kostenfrei; hoher Steuer-Pauschbetrag | Keine Parkprivilegien durch B; aG ist gesondert |
Wo addiert sich was โ und wo eben nicht?
- Mobilitรคt (Nahverkehr): G, aG, H, Bl, Gl, TBl berechtigen grundsรคtzlich zur Freifahrt mit Wertmarke โ bei H/Bl/Gl/TBl ist die Wertmarke kostenlos, bei G/aG meist kostenpflichtig. B schaltet die kostenlose Mitnahme einer notwendigen Begleitperson frei.
- Parken: aG ist der Schlรผssel zum blauen EU-Parkausweis und damit zu Behindertenparkplรคtzen. G kann โ in besonderen Fรคllen und abhรคngig von Landeserlassen โ Parkerleichterungen (orange) ermรถglichen, jedoch nicht die ausgewiesenen Behindertenparkplรคtze. B spielt beim Parken keine Rolle.
- Steuern: Entscheidend ist der GdB und bestimmte Merkzeichen (z. B. H, Bl). Mehrere Merkzeichen erhรถhen nicht automatisch den Pauschbetrag โ der richtet sich nach Art der Behinderung und gesetzlichen Schwellen. Allerdings lassen sich zusรคtzliche tatsรคchliche Aufwendungen (Fahrten, Pflege, Hilfsmittel) leichter begrรผnden.
- Rundfunkbeitrag: Nur RF triggert die ermรครigte/entlastete Beitragspflicht. Andere Merkzeichen wirken hier nicht, kรถnnen aber die RF-Erteilung sachlich stรผtzen.
Antrag, Nachweise, Widerspruch: So holen Sie das Maximum heraus
In Arztberichten sollten nicht bloรe Diagnoselisten mit ICD-Codes im Vordergrund stehen, sondern die tatsรคchlichen Funktions- und Teilhabe-Einschrรคnkungen: Wie weit sind Wegstrecken realistisch mรถglich, wie gelingt das Treppensteigen, wie steht es um Orientierung und Kommunikation?
Diese funktionale Beschreibung lรคsst sich durch kurze Alltagsbelege stรผtzen. Dokumentieren Sie daher Probleme im รPNV, die Notwendigkeit einer Begleitung, Sturzereignisse oder die Nutzung von Hilfsmitteln โ etwa mit einem einfachen Fahrtenbuch oder einem Pflegeprotokoll.
Wird ein beantragtes Merkzeichen wie โBโ abgelehnt, obwohl Sie im Nahverkehr ohne Begleitung faktisch nicht sicher unterwegs sind, handeln Sie frรผhzeitig: Legen Sie Widerspruch ein und reichen Sie zielgenaue Nachweise nach, zum Beispiel aktuelle Therapieberichte, standardisierte Funktionstests oder dokumentierte Schul- bzw. Arbeitswegunfรคlle.
Achten Sie auรerdem darauf, Antrรคge klug zu strukturieren: Stellen Sie gezielt Erweiterungsantrรคge โ etwa von einem bestehenden โGโ auf zusรคtzlich โBโ โ statt den gesamten Fall neu aufzurollen.
Das spart Zeit, fokussiert die Prรผfung auf den konkreten Mehrbedarf und senkt das Risiko unnรถtiger Herabsetzungen an anderer Stelle.
Hรคufige Irrtรผmer โ kurz korrigiert
- โMit B fahre ich kostenlos.โ โ Falsch. B macht die Begleitperson kostenlos; Ihre Freifahrt hรคngt von anderen Merkzeichen plus Wertmarke ab.
- โG reicht fรผr Behindertenparkplรคtze.โ โ Falsch. Dafรผr ist aG maรgeblich (blauer Parkausweis).
- โRF bringt auch Steuervorteile.โ โ Falsch. RF wirkt nur beim Rundfunkbeitrag.
- โBlind = automatisch aG.โ โ Nein. Bl und aG sind verschiedene Tatbestรคnde.




