Schwerbehinderung: Unter 3 Stunden arbeitsfähig – Gericht setzt Grenze für Ansprüche

Die Rentenversicherung erklärte einen Menschen mit Schwerbehinderung zwar für voll erwerbsgemindert, meinte aber, diese Erwerbsminderung könne sich bessern. Der zuständige Sozialhilfeträger verweigerte dem Betroffenen daraufhin Leistungen, da er nicht auf Dauer erwerbsgemindert sei.

Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg verurteilte die Sozialbehörde, dem Mann Sozialhilfe zu zahlen – und betonte: Gerichte sind nicht an die Feststellungen der Rentenversicherung gebunden. Maßgeblich ist § 45 SGB XII. Az:(L 2 SO 1981/24)

Grad der Behinderung von 100

Der Betroffene hat einen Grad der Behinderung von 100, dazu die Nachteilsausgleiche G, aG, H und B. Bereits als Säugling wurde ihm ein Herz transplantiert; bis heute erhält er eine Immunsuppression.

Seit dem Kleinkindalter litt er an epileptischen Anfällen, seine Sprachentwicklung ist gestört, zudem bestehen eine Lese- und Rechtschreibschwäche und weitere gesundheitliche Probleme.

Keine Rente trotz Erwerbsminderung

Er beantragte eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) erkannte zwar eine volle Erwerbsminderung an, bewertete diese jedoch als befristet, weil eine Besserung nicht unwahrscheinlich sei.

Den Rentenantrag lehnte sie gleichwohl ab, da die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (z. B. Wartezeit) nicht erfüllt waren. Wichtig: Der fehlende Rentenanspruch steht Leistungen der Grundsicherung nicht entgegen.

Antrag auf Sozialhilfe abgelehnt

Daraufhin stellte der Mann einen Antrag auf Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Das Sozialamt lehnte ab: Er sei nicht auf Dauer voll erwerbsgemindert – das sei aber Voraussetzung. Man sei an die Einschätzung der DRV gebunden.

Es geht vor das Sozialgericht

Der Betroffene klagte vor dem Sozialgericht Reutlingen. Sein Bevollmächtigter machte geltend: Entgegen der Annahme der DRV liegt eine dauerhafte volle Erwerbsminderung vor. Daher bestehe Anspruch auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII.

Sozialamt sieht sich an Rentenversicherung gebunden

Der Vertreter des zuständigen Sozialamtes entgegnete, man habe keinen Einfluss auf die Feststellung der DRV und sei daran gebunden. Weil das Sozialamt über die dauerhafte volle Erwerbsminderung nicht selbst entscheiden könne, sei die Klage ungeeignet.

Richter prüfen Gutachten – und widersprechen der DRV

Das Gericht prüfte die vorliegenden Gutachten und folgte der DRV-Bewertung nicht. Der Betroffene habe erhebliche kognitive Defizite, die dauerhaft seien. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb die DRV eine relevante Besserung für nicht unwahrscheinlich hielt.

Das Sozialgericht verurteilte das Sozialamt, dem Betroffenen Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu zahlen.

Sozialamt scheitert in der Berufung

Das Sozialamt legte Berufung zum LSG Baden-Württemberg ein – ohne Erfolg. Die Richter stellten klar: Die Bindungswirkung des § 45 SGB XII betrifft den Sozialhilfeträger, nicht die Gerichte. Diese prüfen die dauerhafte volle Erwerbsminderung eigenständig.

Das LSG bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz: Das Leistungsvermögen des Mannes sei seit Geburt deutlich vermindert, es betrage unter drei Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und lasse sich nach dem medizinischen Gesamtbild nicht verbessern.

Langjährige medizinische und therapeutische Behandlungen sowie sonderschulische Förderung hätten daran nichts geändert; allenfalls lasse sich die Selbstständigkeit im Alltag in Teilbereichen fördern. Die volle Erwerbsminderung ist dauerhaft. Folglich muss das Sozialamt Grundsicherung leisten.

Rechtsgrundlagen im Überblick

Rechtsgrundlage Inhalt / Bedeutung
§§ 19 Abs. 2, 41 ff. SGB XII Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung: Anspruch besteht bei dauerhafter voller Erwerbsminderung und Hilfebedürftigkeit; tatsächlicher Rentenbezug ist nicht erforderlich.
§ 45 SGB XII Bindungswirkung: Feststellungen der DRV zur Erwerbsminderung binden den Sozialhilfeträger, nicht die Sozialgerichte. Gerichte prüfen selbst.
§ 43 Abs. 2 SGB VI Begriff der vollen Erwerbsminderung: Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter 3 Stunden täglich.
§ 19 Abs. 2 Satz 2 SGB XII Vorrang der Grundsicherung vor Hilfe zum Lebensunterhalt, wenn die Voraussetzungen des 4. Kapitels vorliegen.

Warum der fehlende Rentenanspruch nicht schadet

Dass die DRV eine Rente mangels Vorversicherungszeiten versagte, spielt für die Grundsicherung keine Rolle. Entscheidend ist allein, ob eine dauerhafte volle Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 2 SGB VI vorliegt und ob Hilfebedürftigkeit besteht. Genau das haben die Gerichte bejaht.

Einordnung für Betroffene

Das Urteil schafft Klarheit: Wer dauerhaft voll erwerbsgemindert ist, kann Grundsicherung nach dem SGB XII beanspruchen – selbst wenn die DRV keine Rente zahlt. Sozialämter dürfen Anträge nicht pauschal mit Verweis auf eine befristete DRV-Einschätzung ablehnen. Kommt es zum Streit, prüfen die Gerichte eigenständig.

Für Betroffene lohnt es sich, fachärztliche Gutachten, schulische und therapeutische Entwicklungsberichte sowie aktuelle Befunde beizubringen, um die Dauerhaftigkeit der Erwerbsminderung zu belegen.