Rente: Rentenversicherung hat falsch beraten und muss jetzt haften

Lesedauer 3 Minuten

Rรผckwirkende Gewรคhrung von Altersrente fรผr langjรคhrig Versicherte aufgrund eines Behรถrdenfehlers, nรคmlich der Bekanntgabe einer falschen Hinzuverdienstgrenze in der Rentenauskunft.

Eine falsche Auskunft รผber die geltenden Hinzuverdienstgrenzen in einer Rentenauskunft stellt auch ohne konkrete Nachfrage des Versicherten und ohne Anlass zu einer Spontanberatung eine Pflichtverletzung dar, die einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch auslรถsen kann.

Mit heutigem Tage gibt aktuell das Landessozialgericht Baden-Wรผrttemberg (Az: L 9 R 1412/23) bekannt, dass dem Antragsteller Altersrente fรผr langjรคhrig Versicherte bereits ab dem 01.12.2020 zu gewรคhren war, denn der Klรคger sei nach dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch so zu stellen, als hรคtte er den Antrag noch im Februar 2021 gestellt.

Der Rentenversicherungstrรคger hatte – eine falsche Hinzuverdienstgrenze in der Rentenauskunft – mitgeteilt, die Pflicht zu richtigen Informationen sei auch nicht deswegen weggefallen, weil sich der Klรคger in der Presse hรคtte informieren kรถnnen.

Pflichtverletzung des Rentenversicherungstrรคgers – Spontanberatungspflicht

Begrรผndung des Gerichts – LSG Baden-Wรผrttemberg, Urteil vom 21.01.2025 – L 9 R 1412/23 –

Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist eine besondere, sozialrechtlich geprรคgte Form des รถffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruchs, der den Staat aus verfassungsrechtlichen Grรผnden (Art. 20 Abs. 3 GG, vgl. auch Art. 34 GG) verpflichtet, Schรคdigungen der Rechte einzelner durch staatliches Fehlverhalten soweit wie mรถglich auszugleichen.

Voraussetzung des Anspruchs ist, dass ein Sozialleistungs- bzw. Sozialversicherungstrรคgers eine ihm gegenรผber einem Leistungsberechtigten obliegende Pflicht verletzt hat

Oder ihm eine Pflichtverletzung durch einen Dritten zurechenbar ist, wodurch beim Betroffenen kausal ein Nachteil eingetreten ist und der Zustand, der ohne die Pflichtverletzung bestรผnde, durch eine zulรคssige Amtshandlung des Verpflichteten herstellbar ist.

Beratungsfehler kรถnnen einen soz. Herstellungsanspruch auslรถsen โ€“ verspรคtete Antragstellung

GemรครŸ der Natur des Sozialrechts liegen die Pflichtverletzungen, die einen Herstellungsanspruch auslรถsen kรถnnen, oft in Beratungsfehlern. In diesem Rahmen greift der Anspruch ein, wenn eine speziellere Rechtsgrundlage zur Beseitigung der Folgen einer etwaigen Beratungspflichtverletzung fehlt.

Konkret im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung mit ihren antragsabhรคngigen Rentenansprรผchen kann in diesem Rahmen bei verspรคteter Antragstellung ein Anspruch auf rรผckwirkende Zulassung eines Rentenantrags bzw. rรผckwirkende Gewรคhrung der Rente fรผr (lรคngere) Zeiten vor der Antragstellung folgen (BSG, Urteil vom 26.01.2020 – B 13 RJ 37/98 R; BSG, Urteil vom 24.04.2014 – B 13 R23/13 R; LSG Baden-Wรผrttemberg, Urteil vom 16.12.2014 – L 10 RA 4887/03 – ).

Sozialleistungstrรคger sind nicht nur dann zu – zutreffenden – Beratungen verpflichtet, wenn sie ein Gesetz ausdrรผcklich dazu verpflichtet (Pflichtberatung), wenn ein Bรผrger konkret fragt (Anlassberatung) oder wenn sich auf Grund sonstiger Umstรคnde fรผr den Leistungstrรคger ein konkreter Beratungsbedarf aufdrรคngt (Spontanberatung).

Pflicht zur Beratung nach ยง 14 SGB 1

Eine gesetzlich geregelte Pflicht zu konkreten Auskรผnften im Sinne einer Beratung ist z.B. die รœbersendung von Renteninformationen und Rentenauskรผnften nach ยง 109 Abs. 1 SGB VI. Grundsรคtzlich finden die Pflichten zu Anlass- und Spontanberatung ihre Grundlage in ยง 14 SGB I.

Eine spezielle Regelung mit einem Sonderfall der Spontanberatung im Rentenversicherungsrecht ist ยง 115 Abs. 6 SGB VI.

Besondere Umstรคnde kรถnnen rechtfertigen, dass der RV von sich aus dem Versicherten einen vorzeitigem Rentenbeginn mitteilen muss

Ein Rentenversicherungstrรคger ist danach unter Umstรคnden verpflichtet, von sich aus einem Versicherten mitzuteilen, dass inzwischen die Voraussetzungen fรผr eine Rente vorliegen.

รœber das bloรŸe Unterlassen einer geschuldeten Beratung hinaus ist auch eine gegebene, aber falsche Auskunft eine Pflichtverletzung.

Dies gilt – aber nicht nur bei den gesetzlich geregelten Beratungs- und Auskunftspflichten.

Vielmehr sind staatliche Stellen – generell verpflichtet, jegliche Auskunft sachgerecht, vollstรคndig und richtig zu erteilen.

Denn im Rechtsstaat hat der Empfรคnger staatlicher Auskรผnfte grundsรคtzlich einen Anspruch, in seinem Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskรผnfte geschรผtzt zu werden.

Falsche Auskunft des RV fรผhrt zu sozialrechtlichen Herstellungsanspruch

Zu einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch kann eine solche pflichtwidrige, falsche Auskunft dann fรผhren, wenn sie nicht nur allgemein an die Bevรถlkerung gerichtet war, sondern innerhalb eines individuellen Sozialrechtsverhรคltnisses an einen konkreten Leistungsberechtigten, also ein subjektives Recht eines Einzelnen auf zutreffende Auskรผnfte verletzt hat.

Dazu gehรถren z.B. unzutreffende Hinweise in einer Rentenauskunft an einen Versicherten (so auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 30.06.2009 – L 14 R 771/08 ; SG Karlsruhe, Urteil vom 26.01.2023 – S 19 R 1790/22 – unverรถffentlicht).

Dem Klรคger ist ein Nachteil entstanden

Ein solcher Nachteil liegt schon darin, dass dem betroffenen Versicherten wegen des Beratungsfehlers die Wahlmรถglichkeit verlorengegangen ist, eine Rente ab dem frรผhestmรถglichen oder erst ab einem spรคteren Zeitpunkt zu beziehen, also auf der Grundlage vollstรคndiger und zutreffender Informationen frei รผber die Gestaltung seines Renteneintritts entscheiden zu kรถnnen.

Diese Entscheidungsfreiheit ist Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG.

Letztlich stehen dem Anspruch des Klรคgers wegen der Altersrente ab 01.12.2020 keine Fristen entgegen. Auch fรผr die rรผckwirkende Gewรคhrung von Sozialleistungen auf Grund des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs gilt – nur – die Frist von vier Jahren nach ยง 44 Abs. 4 SGB X.

Fazit:

1. Eine falsche Auskunft รผber die geltenden Hinzuverdienstgrenzen in einer Rentenauskunft nach ยง 109 SGB VI aF stellt auch ohne konkrete Nachfrage des Versicherten und ohne Anlass zu einer Spontanberatung eine Pflichtverletzung dar, die einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch auslรถsen kann.

2. Der durch eine falsche Auskunft des Rentenversicherungstrรคgers verursachte Nachteil des Versicherten liegt bereits in der Beeintrรคchtigung seiner freien Entscheidungsmรถglichkeiten รผber Beginn und Ausgestaltung seines Renteneintritts.

3. Ein Nachteil liegt schon darin, dass dem betroffenen Versicherten wegen des Beratungsfehlers die Wahlmรถglichkeit verlorengegangen ist, eine Rente ab dem frรผhestmรถglichen oder erst ab einem spรคteren Zeitpunkt zu beziehen, also auf der Grundlage vollstรคndiger und zutreffender Informationen frei รผber die Gestaltung seines Renteneintritts entscheiden zu kรถnnen.

Diese Entscheidungsfreiheit ist Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG.