Obdachlosigkeit und Wohnungsnot

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Obdachlosigkeit und Wohnungsnot – Verharmlost und unter den Teppich gekehrt?
von Joachim Weiss

Lörrach. Die Zahl der angekündigten Zwangsräumung von Wohnungen sei auch in Lörrach gestiegen, berichtet die Badische Zeitung (1). Gemeinsam mit dem AGJ – Fachverband für Prävention und Rehabilitation in der Erzdiözese Freiburg e.V. hat die Stadt daher probeweise eine „Fachstelle Wohnungssicherung“ eingerichtet (2). Dort können sich Betroffene mit ihren Wohnungsnöten an Sozialarbeiterin Sylvia Ziegler wenden.

Nach Ansicht von Oberbürgermeisterin Gudrun Heute-Bluhm (CDU) (6) gehe es vor allem darum, neue Verbindungen zwischen bestehenden Zuständigkeiten zu schaffen. Die Bevölkerung erwarte, dass die Behörden zusammenarbeiten und ihr Wissen austauschen, was wegen „unterschiedlicher Zuständigkeiten und auch wegen des Datenschutzes“ oft schwierig sei. Heute-Bluhm ist zuversichtlich, dass die Einrichtung „nicht nur Geld kostet, sondern auch Kosten spart“ und nennt dazu (verdächtig niedrige) Zahlen:

Im Jahr 2007 seien beim Amtsgericht 28 Meldungen über Zwangsräumungen eingegangen;
2008 waren es 42 und 2009 bisher 39 Meldungen.

Man kann den von Obdachlosigkeit bedrohten Personen nur dringend empfehlen, das Beratungsangebot der „Fachstelle Wohnungssicherung“ wahrzunehmen; hierzu wurde im Erich-Reisch-Haus (Wallbrunnstraße 66) jetzt ein Büro eingerichtet, das jeweils dienstags (10-12 Uhr) und donnerstags (14-16 Uhr) besetzt ist.

Allerdings erwecken die von OB Heute-Blum genannten Zahlen den Eindruck nachhaltig geschönt worden zu sein – man möchte schließlich nicht am Image der selbst ernannten „Wohlfühlstadt“ kratzen, wobei die Lokalredaktion der Badischen Zeitung (BZ) ihrem Ruf als unkritischer Hofberichterstatter alle Ehre erweist.

Eine Anfrage von gegen-stimmen.de bei der Pressestelle des Amtsgerichts Lörrach vom Juli 2009 zeigt jedoch ein anderes Bild:

„Die Anzahl der Zwangsräumungen durch die Gerichtsvollzieher und die entsprechenden Verfahren vor dem Amtsgericht werden statistisch nicht erfasst. Wir haben jedoch auf Bitte der Stadt Lörrach im Rahmen des Arbeitskreises Obdachlosigkeit begonnen, die gerichtlichen Zwangsräumungsverfahren zu erfassen. Im Jahr 2009 waren dies [bis Ende 31. Juli 2009 Anm. d.V.] 129 Verfahren. Wie viele Verfahren dann auch tatsächlich vollstreckt werden, erheben wir nicht. Soenke Blunck, Pressesprecher AG Lörrach

Hochgerechnet auf das Gesamtjahr ergibt sich daraus eine Zahl von rund 220 Zwangsräumungsverfahren!

Für einen vergleichsweise kleinen Gerichtsbezirk wie Lörrach muss diese Zahl alarmierend sein, selbst wenn die Mehrzahl der Verfahren nicht in einem Worst-Case-Szenario mit Polizei, Gerichtsvollzieher und Möbelwagen endet. Dennoch handelt es sich bei den 220 Verfahren nach Auskunft von Pressesprecher Blunck „ausschließlich um Privathaushalte“, über deren Einkünfte bzw. Alimentierung durch Hartz IV das Amtsgericht allerdings keine Daten erhebt.

Dass die Zahl der Verfahren überhaupt erfasst wird, ist im übrigen auch nicht das Ergebnis rühriger Sozialfürsorge an der Lörracher Bürgerschaft, wie das Süßholz-Geraspel der Badischen Zeitung und die irreführenden Verharmlosungen von OB Heute-Blum nahe legen, sondern geht auf eine Anforderung des kriminalpräventiven »Arbeitskreis Obdachlosigkeit« vom Januar 2009 zurück, in dem die Stadt durch die Fachbereichsleiterin Yvonne Eyhorn vertreten ist.
Dass die Stadt Lörrach respektive die Grundsicherung für Arbeitssuchende (GAL) bereits 2006 bundesweit in Verruf geraten ist, Menschen durch großteils rechtswidrige Umzugsaufforderungen aus ihren Wohnungen zu verdrängen, die später als Zombies in der Obdachlosenstatistik wiederkehren, erfährt man in der Badischen Zeitung nicht – wohl aber aus Umfragen der Berliner Initiative gegen Zwangsumzüge (4)

Hat sich diese Situation seither verbessert, wollten wir vom zuständigen Bereichsleiter der Grundsicherung, Hubert Dietrich, im August 2009 wissen? Der Umgang mit den Kunden hat sich verbessert, auch die GAL (4) ist lernfähig. Dennoch räumt Hubert Dietrich ein, dass die Behörde gegen ca. 10 Prozent der 300 monatlichen Neuzugänge sogenannte „Mietsenkungsverfahren“ einleitet (Stand August 2009), d.h. diese „Kunden“ werden von der Arbeitsagentur zum Umzug in eine kleinere oder billigere Wohnung gedrängt. Wer der Aufforderung nicht folgt, muß mit Leistungskürzungen rechnen, die meistens Mietrückstände, Kündigungen und spätere Zwangsräumungen verursachen.

Warum die Zahlen der GAL so auffällig mit den Fallzahlen des Amtsgerichts korrelieren, kann oder möchte Hubert Dietrich nicht kommentieren, und tatsächlich geht auch aus der Statistik des Amtsgerichts nicht hervor, wie viele Opfer von Räumungsklagen zuvor Hartz IV bezogen haben. Immerhin wurde von Seiten der GAL aber nichts beschönigt oder zerredet.

Fazit: Für die Wohnsituation von Geringverdienern und Sozialhilfeempfänger ist Lörrach ein denkbar ungünstiger Standort. Das Wohnraumangebot für 1-2 Personen-Haushalte ist miserabel, die Mieten aufgrund der Grenzlage und den noch immer relativ gut verdienenden Grenzgängern exorbitant hoch; das Interesse an sozialen Problemen ist gering und statt auf urbane Lebensräume für Alle setzt man auf Kommerzialisierung und ignoriert die damit einhergehende Gentrifizierung.

Gentrifizierung (von engl. Gentry = niederer Adel), auch Gentrifikation oder umgangssprachlich „Yuppiesierung“, ist ein in der Stadtgeographie verwendeter Begriff, der einen sozialen Umstrukturierungsprozess in Stadtteilen beschreibt. Demnach führen die gezielte Aufwertung eines Wohnumfeldes sowie Restaurierungs- und Umbautätigkeiten zu einer Veränderung der Bevölkerungsstruktur. Investoren sehen Chancen zur Wertsteigerung, Häuser und Wohnungen werden restauriert, Szene-Clubs und Lokale entstehen – die Mieten steigen, und finanziell schwache Alteingesessene wandern wegen der Mieterhöhungen ab (7).
Eine neue, wohlhabendere Klientel siedelt sich an und setzt andere Lebensstandards durch, Immobilienunternehmen entdecken das Interesse und sanieren weitere Häuser luxuriös – die ursprüngliche Bevölkerungsstruktur und der Charakter der Viertel wandeln sich. Oftmals entstehen anhaltende politische Konflikte durch die Gentrifizierung und ihre nachteiligen sozialen Folgen.

Wohl der Stadt oder Gemeinde, die solchen sozialfeindlichen Tendenzen frühzeitig erkennt und ihnen einen Riegel vorschiebt – doch davon sind die Lörracher OB Heute-Blum und ihre weihrauchschwingenden Hofberichterstatter noch weit entfernt. (Joachim Weiss, gegen-stimmen.de, 12.12.2009)