Noch 2025 soll die sechste Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) in Kraft treten. Damit wird zum ersten Mal seit 2009 der methodische Unterbau für die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) grundlegend neu justiert.
Die Reform spielt sich weitgehend im Hintergrund – in Teil A der „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ – ab, entscheidet aber künftig darüber, wie Behörden, Gerichte und Gutachter jede einzelne Gesundheitsbeeinträchtigung bewerten.
Warum überhaupt eine Reform?
Die bisherigen Regeln stammen aus einer Zeit, in der weder die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) noch das neue soziale Entschädigungsrecht berücksichtigt waren.
Leistungsträger, Verbände und Gerichte kritisierten seit Jahren, dass das alte System zu stark auf Defizite schaute und Teilhabesspekte unzureichend erfasste. Mit der Neufassung soll daher ein ICF-orientiertes, teilhabebezogenes Bewertungsmodell verankert werden, das bundesweit einheitlich funktioniert.
Kurzübersicht: Alle Änderungen durch die GdB- Reform 2025
Reformbereich (Teil A & Begleitgesetzgebung) | Was ändert sich 2025? |
Neuer Aufbau Teil A der VersMedV | Drei klar gegliederte Kapitel (Einzel- / Gesamt-GdB, Heilungsbewährung, Mehrfachbeeinträchtigungen) ersetzen verstreute Regelungen und verankern den Teilhabebegriff. |
Abschied von der „optimalen Versorgung“-Fiktion | Hilfsmittel / Therapien führen nicht mehr automatisch zu niedrigeren GdB-Werten; tatsächliche Teilhabeeinschränkung zählt. |
Mindestschwellen beim Gesamt-GdB | Bereits +10 Punkte können den Gesamt-GdB erhöhen, wenn sie das Gesamtbild merklich verschlechtern; klarere Rechenlogik. |
Vorausschau bei progredienten Krankheiten | Bei rasch fortschreitenden Leiden (z. B. ALS) darf schon im ersten Halbjahr die wahrscheinliche Verschlechterung berücksichtigt werden. |
Heilungsbewährung nach Krebs / Transplantation | Pauschaler GdB 50 bleibt; außergewöhnliche Therapiefolgen müssen zusätzlich bewertet werden. |
Psychische Komorbiditäten & Schmerzen | Höherer GdB nur mit eigenständigem ICD-Code; Betroffene brauchen häufiger fachärztliche Gutachten. |
Leichte Gesundheitsstörungen | Einzel-GdB 10 und oft auch 20 beeinflussen den Gesamt-GdB grundsätzlich nicht mehr. |
Digitale Antragsverfahren | Mehrere Länderportale akzeptieren vollständige Online-Erstanträge inklusive Upload von Befunden; Ziel: bundesweit kürzere Bearbeitungszeiten. |
Erhöhte Ausgleichsabgabe (Arbeitgeber) | Für jeden unbesetzten Pflichtplatz bis zu 815 € pro Jahr (Erhebungsjahr 2025); Anreiz zur Einstellung Schwerbehinderter. |
Höhere Freibeträge in der Eingliederungshilfe | Vermögensfreibetrag jetzt rund 67 000 €; höherer Einkommensfreibetrag stärkt finanzielle Autonomie. |
Anhebung Pflegeleistungen | Pflegegeld und Sachleistungen steigen um etwa 4,5 %; Entlastung für Angehörige mit Pflegeverantwortung. |
Offene Baustelle Teil B | Krankheitsspezifische Tabellen bleiben vorerst unverändert; weitere Anpassungen sind angekündigt, können aber auch Kürzungen bringen. |
Der neue Teil A
Künftig bündelt Teil A drei Themen: die Einzel- und Gesamt-GdB-Bemessung, die Heilungsbewährung nach Krebs und Organtransplantationen sowie die Regeln für die Zusammenrechnung mehrerer Beeinträchtigungen.
Alles, was bisher über verschiedene Anhänge verteilt war, steht nun in einem durchgängigen Kapitel mit klarer Sprache und festen Prüfschritten.
Lobbyregister beim Deutschen Bundestag
Wo schwerbehinderte Menschen profitieren sollen
Die größte Entlastung ist psychologisch kaum zu überschätzen: Frühere Entwürfe sahen pauschale Absenkungen vor, wenn Hilfsmittel oder moderne Therapien den Alltag erleichtern könnten. Das ist vom Tisch.
Auch die umstrittene Befristung bestehender GdB-Feststellungen bleibt aus. Stattdessen formuliert die Verordnung erstmals Mindestschwellen: Schon eine zusätzliche Beeinträchtigung von zehn Punkten kann den Gesamt-GdB steigen lassen, wenn sie das „Gesamtbild“ merklich verschlechtert.
Bei rasch voranschreitenden Erkrankungen – etwa ALS – darf die Gutachterin jetzt sogar innerhalb der ersten sechs Monate die absehbare Verschlechterung berücksichtigen, statt wie früher auf eine „Stabilisierung“ zu warten.
Lobbyregister beim Deutschen Bundestag
Positiv fällt zudem auf, dass die klassische Heilungsbewährung für Krebsbetroffene erhalten bleibt. Wer während Chemo- oder Immuntherapie mindestens einen GdB 50 bekommt, behält diesen Status weiterhin pauschal, muss aber künftig nicht befürchten, dass außergewöhnliche Therapiefolgen unberücksichtigt bleiben – sie sind ausdrücklich mitzuprüfen.
Lobbyregister beim Deutschen Bundestag
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Die Kehrseite: neue Nachweishürden
Erheblich enger wird es bei psychischen Begleitstörungen und starken Schmerzen.
Ein höherer Gesamt-GdB kommt nur noch in Betracht, wenn eine eigenständige ICD-Diagnose vorliegt. Für Menschen ohne schnellen Facharzttermin oder für Betroffene mit „unspezifischer“ Schmerzsymptomatik könnte das Verfahren dadurch länger und teurer werden.
Gleichzeitig legt die Verordnung fest, dass leichte Gesundheitstörungen – gemeint sind Einzel-GdB von zehn oder zwanzig – den Gesamtwert regelmäßig nicht mehr anheben. In der Praxis dürfte das mehr Widerspruchsverfahren nach sich ziehen, weil Betroffene darlegen müssen, warum ihre zusätzlichen Einschränkungen trotzdem relevant seien.
Digitalisierung beschleunigt – teilweise
Mehrere Bundesländer, darunter Niedersachsen, Berlin und Bremen, ermöglichen inzwischen vollständig digitale Erstanträge; Niedersachsens Online-Portal ist seit Jahresbeginn 2025 live geschaltet. Wer Befunde direkt hochlädt, spart Rückfragen und bekommt häufig schneller einen Bescheid – zumindest dort, wo die Technik stabil läuft.
Begleitende Verbesserungen
Parallel zur GdB-Reform steigen Freibeträge und Leistungen:
- Der Vermögensfreibetrag in der Eingliederungshilfe wächst seit 1. Januar 2025 auf über 67 000 Euro, der Einkommensfreibetrag ebenfalls. Siehe auch: Sozialverband VdK Baden-Württemberg e.V.
- Pflegegeld und andere Pflegeleistungen erhöhen sich um 4,5 Prozent.de
- Arbeitgeber, die keine oder zu wenige schwerbehinderte Menschen beschäftigen, zahlen ab dem Erhebungsjahr 2025 höhere Ausgleichsabgaben; die höchste Staffel liegt nun bei 815 Euro je unbesetztem Pflichtarbeitsplatz.
Stimmen aus der Verbändelandschaft
SoVD und VdK begrüßen ausdrücklich, dass der Gesetzgeber keine verdeckten Leistungskürzungen vorgenommen hat. Die BAG Selbsthilfe und der Deutsche Gewerkschaftsbund sehen zwar Fortschritte, kritisieren aber die strengeren Nachweispflichten bei psychischen Komorbiditäten und warnen vor möglichen Verschlechterungen, sobald Teil B – die krankheitsspezifischen Kapitel – später in Angriff genommen wird.
Was Betroffene jetzt tun sollten
Wer bereits einen Antrag laufen hat, sollte prüfen, ob die neuen Regeln sogar Vorteile bringen; denn Anhörungen ab Inkrafttreten werden automatisch nach neuem Recht entschieden.
Gleichzeitig lohnt es sich, aktuelle Facharztberichte einzuholen, die Schmerzen oder seelische Belastungen eindeutig mit ICD-Codes benennen. Arbeitgeber schließlich tun gut daran, ihre Beschäftigungsquoten bis zum Jahresende 2025 aufzubessern, um die künftig höheren Ausgleichsabgaben zu vermeiden.