Depressionen so häufig in die Erwerbsminderungsrente?
Deutschland diskutiert seit Jahren über den dramatischen Anstieg psychischer Erkrankungen – und nirgends wird die Wucht dieses Trends so sichtbar wie im Rentensystem.
Schon 2023 stellte die Deutsche Rentenversicherung fest, dass fast jede zweite neue Erwerbsminderungsrente auf Depressionen oder andere seelische Leiden entfällt. In absoluten Zahlen waren das mehr als 65 000 Menschen, Tendenz weiter steigend.
Inhaltsverzeichnis
Wenn jede zweite Rente auf die Psyche zurückgeht – warum bleibt der Zugang so schwer?
Die Statistik legt nahe, dass Depressionen längst als „Volkskrankheit“ anerkannt sind. Trotzdem berichten Betroffene immer wieder, wie mühsam sich der Weg zur Rente gestaltet.
Das große Problem: Seelische Beschwerden lassen sich nicht röntgen oder mittels Laborwerten nachweisen. Die Rentenversicherung verlangt aber „objektivierte Befunde“ – also sichtbare, von außen nachvollziehbare Einschränkungen.
Um Betrugsfällen vorzubeugen, begegnet der Kostenträger sowohl den Angaben der Versicherten als auch ärztlichen Attesten mit besonderer Skepsis.
Welche gesetzlichen Voraussetzungen gelten aktuell für eine Erwerbsminderungsrente?
Das Recht unterscheidet zwischen der teilweisen und der vollen Erwerbsminderungsrente. Wer täglich weniger als sechs, aber mehr als drei Stunden unter üblichen Arbeitsmarktbedingungen leisten kann, gilt als teilweise erwerbsgemindert. Sinkt das Leistungsvermögen unter drei Stunden, liegt volle Erwerbsminderung vor.
Zusätzlich muss die allgemeine Wartezeit von fünf Beitragsjahren erfüllt sein; drei dieser Jahre müssen in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Minderung liegen. Sonderregelungen greifen etwa für vor 1961 Geborene mit Berufsschutz oder für Menschen, die schon sehr jung dauernd erwerbsgemindert waren.
Ein weiterer Sonderfall ist die sogenannte Arbeitsmarktrente: Findet sich binnen Jahresfrist kein geeigneter Teilzeitarbeitsplatz, wird auch Teilweise Erwerbsgeminderten die volle Rente gezahlt.
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– Steigt die EM-Rente durch den Grad der Schwerbehinderung?
Ab wann gelten Depressionen als „schwer genug“ für eine EM-Rente?
Leichte oder vorübergehende depressive Episoden führen in der Regel nicht zur Rente. Erst eine chronisch schwere Depression – häufig diagnostiziert als „rezidivierende schwere depressive Störung“ – kann die geforderte erhebliche Einschränkung belegen.
Entscheidend ist nicht die Diagnose allein, sondern wie stark sie das tägliche Leistungsvermögen mindert. Komorbiditäten wie Angststörungen, Somatisierungsbeschwerden oder Essstörungen werden dabei mitbewertet, weil sie das Gesamtbild oft deutlich verschärfen.
Wie belegt man eine Krankheit, die man nicht sehen kann?
Der Dreh‑ und Angelpunkt ist das sozialmedizinische Gutachten. Hier müssen Arztberichte, Klinik‑ und Rehaunterlagen den Verlauf der Erkrankung lückenlos dokumentieren.
Da die Begutachtung auf Verhaltens‑ und Gesprächsbeobachtung basiert, sollte der behandelnde Facharzt ungewöhnliche Symptomkonstellationen (etwa vermehrtes Essen bei Depression trotz typischer Appetitlosigkeit) schriftlich erläutern. So lassen sich spätere Vorwürfe der „Simulation“ entkräften.
Wie bereitet man sich auf das sozialmedizinische Gutachten vor?
Erfahrene Betroffene raten, die eigene Krankengeschichte schriftlich aufzubereiten – von den ersten Symptomen über Therapie‑ und Reha‑Phasen bis zu den Gründen, warum Arbeiten selbst in Schonung nicht mehr möglich ist. Ein Bündel aussagekräftiger Befunde beugt Missverständnissen vor.
Wer sich auf mögliche Fangfragen einstellt, gerät seltener in Widersprüche, wenn dasselbe Symptom anders formuliert mehrfach abgefragt wird.
Genauso wichtig ist Authentizität: Weder Übertreibung noch demonstrative Verwahrlosung helfen, denn Gutachter vergleichen Gesagtes mit äußerem Erscheinungsbild und Alltagsberichten.
Was tun, wenn der Antrag scheitert oder die Rente zu knapp ausfällt?
Eine Ablehnung ist kein Endpunkt, sondern eröffnet das Widerspruchs‑ und Klageverfahren.
Innerhalb eines Monats muss schriftlich begründet werden, warum das Gutachten nach Auffassung des Versicherten fehlerhaft ist – häufig mit Unterstützung durch Fachanwälte oder Sozialverbände.
Bleibt auch dann die Leistung niedriger als der Lebensbedarf, greifen Grundsicherung bei Erwerbsminderung oder – bei späterem Übergang in Altersrente – ergänzende Leistungen wie Wohngeld. Bürgergeld kommt nur infrage, wenn weder Rente noch Grundsicherung bewilligt werden.
Welche Reformen ab Juli 2024 bringen neue Chancen?
Der Bundestag hat 2024 das EM‑Renten‑Bestandsverbesserungsgesetz beschlossen. Seit dem 1. Juli 2024 erhalten alle Bestandsrentnerinnen und -rentner einen pauschalen Zuschlag, der die Lücke zwischen alten und neueren, besser bewerteten Rentenzugängen schließen soll. Zunächst wird ein einfach berechneter Aufschlag überwiesen;
Ende 2025 folgt eine passgenau nach Entgeltpunkten ermittelte zweite Stufe. Auch Alters‑ und Hinterbliebenenrenten, die sich direkt an eine EM‑Rente anschließen, profitieren.
Lohnt sich ein neuer Antrag nach der Reform?
Für Neuzugänge ändern sich die medizinischen Hürden nicht, doch der Zuschlag verbessert das langfristige Rentenniveau.
Wer in den vergangenen Jahren erfolglos einen Antrag gestellt hat und deren Symptome sich weiter verschlechtert haben, sollte daher prüfen, ob ein erneuter Vorstoß sinnvoll ist. Beratungsstellen der Rentenversicherung, Sozialverbände und – nicht zuletzt – spezialisierte Plattformen wie betaCare begleiten diesen Prozess kostenfrei.
Durchhalten zahlt sich aus
Das Verfahren bleibt komplex, weil psychische Erkrankungen schwer objektivierbar sind. Gleichwohl zeigen die Zahlen: Eine chronisch schwere Depression wird heute häufiger als je zuvor anerkannt. Wer medizinisch gut dokumentiert, authentisch auftritt und bei Ablehnung konsequent Rechtsmittel nutzt, verbessert seine Chancen erheblich.
Die jüngsten Reformen setzen zudem ein politisches Signal, dass auch der Gesetzgeber die besondere Belastung dieser Versichertengruppe anerkennt.