Die sogenannte „Mütterrente III“ gilt als Schlusspunkt der jahrzehntelangen Ungleichbehandlung bei Kindererziehungszeiten: Künftig sollen für alle Kinder – ob vor oder nach 1992 geboren – 36 Kalendermonate in der gesetzlichen Rente berücksichtigt werden.
Der Referentenentwurf des Bundesarbeitsministeriums vom 3. Juli 2025 und der spätere Kabinettsbeschluss vom 6. August 2025 sehen die Gleichstellung zum 1. Januar 2027 vor.
Die Umsetzung und die Nachzahlungen für 2027 sollen jedoch erst 2028 anlaufen. Damit ist der Wille klar – die praktische Wirkung aber zweistufig angelegt. Für Bezieher und Bezieherinnen der sog. Witwenrente könnte dies jedoch zur Rentenfalle werden.
Zeitplan und Verfahren: Auszahlung ab 2028
Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) bestätigt: Die Koalition strebt den Start zum 1. Januar 2027 an. Wegen des immensen IT-Aufwands könnten die tatsächlichen Auszahlungen jedoch erst 2028 erfolgen – dann rückwirkend für 2027.
Wichtig ist: Die DRV stellt zugleich klar, dass die Mütterrente keine eigene Leistung neben der Alters- oder Erwerbsminderungsrente ist, sondern als Teil dieser Rente läuft.
Genau dadurch entsteht die Brisanz für Hinterbliebene, denn der Zuschlag erhöht die eigene Versichertenrente und kann deshalb auf die Witwenrente angerechnet werden. Auch andere Sozialleistungen wie Grundsicherung oder Wohngeld können betroffen sein.
Rechtsgrundlage: Mehr Erziehungszeit, mehr Entgeltpunkte – und mehr anrechenbares Einkommen
Die Gleichstellung wird rentenrechtlich über Anpassungen im SGB VI umgesetzt. Kern ist die vollständige Anerkennung von 36 Monaten Kindererziehungszeit je Kind, einschließlich zusätzlicher Entgeltpunkte für Geburten vor 1992.
Für Bestandsrentnerinnen greifen pauschale Zuschläge, für künftige Rentenzugänge werden die längeren Erziehungszeiten in der Rentenformel abgebildet.
Das politische Ziel ist unstrittig: Gleichbehandlung und ein messbarer Rentenanstieg für rund zehn Millionen Betroffene.
Dass der Zuschlag aber als Bestandteil der eigenen Rente gilt, ist zugleich der Grund, warum er bei Hinterbliebenenleistungen und bedarfsabhängigen Sozialleistungen einkommensseitig ins Gewicht fällt.
Der Mechanismus der Kürzung: Wie die Einkommensanrechnung wirkt
Witwen- und Witwerrenten werden nach § 97 SGB VI gekürzt, wenn eigenes Einkommen – dazu zählt auch die eigene gesetzliche Rente – bestimmte Freibeträge übersteigt. Vom übersteigenden Netto-Einkommen werden 40 Prozent auf die Hinterbliebenenrente angerechnet.
Steigt also die eigene Rente durch zusätzliche Entgeltpunkte aus der Mütterrente III, erhöht sich das anrechenbare Einkommen und die Witwenrente kann sinken.
Diese Logik ist keine Besonderheit der Reform, sondern systemimmanent: Die Hinterbliebenenrente ergänzt die eigene Versorgung, sie soll sie nicht doppelt abdecken. Deshalb führt ein höheres eigenes Renteneinkommen regelmäßig zu einer Anrechnung und damit potentiell zu einer Kürzung der Hinterbliebenenleistung.
Übergang 2027 und der Knick ab 2028: Der politisch gewollte Puffer – und sein Ende
Der Gesetzentwurf regelt ausdrücklich eine Entlastung für das Jahr 2027: Der damals gewährte Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten wird bei der Einkommensanrechnung auf Witwen- und Witwerrenten zunächst außen vor gelassen.
So sollen millionenfache rückwirkende Neuberechnungen vermieden werden. Ab 2028 gelten dann wieder die regulären Regeln der Einkommensanrechnung – mit der Folge, dass die zusätzlich gutgeschriebene eigene Rente als Einkommen zählt und Hinterbliebenenrenten entsprechend niedriger ausfallen können.
Der Entwurf beziffert selbst die Größenordnung: In rund 1,5 Millionen Fällen treffen eine eigene Rente mit Zuschlag und eine Hinterbliebenenrente zusammen.
Grundsicherung im Alter: Höhere Rente, geringere Sozialleistung
Auch bei der Grundsicherung im Alter wirkt der gleiche Mechanismus: Da die Mütterrente III Teil der eigenen gesetzlichen Rente ist, erhöht sie das zu berücksichtigende Einkommen.
Bei gleichbleibendem Bedarf sinkt die ergänzende Sozialleistung entsprechend. Für Betroffene heißt das: Ein Plus bei der Rente kann eins zu eins zu einem Minus bei der Grundsicherung führen – je nach individueller Lage. Die DRV weist explizit darauf hin, dass solche Anrechnungen möglich sind.
Wer profitiert – und wer verliert? Eine differenzierte Bilanz
Gesamtgesellschaftlich schließt die Reform eine Gerechtigkeitslücke: Kindererziehung wird künftig in allen Jahrgängen gleich honoriert. Für viele Mütter – und Väter, denn Kindererziehungszeiten können zugeordnet werden – bedeutet das auf Lebenszeit höhere Rentenansprüche. Gleichzeitig entsteht für Hinterbliebene ein „Drehtüreffekt“: Die eigene Rente steigt, die Hinterbliebenenrente sinkt.
Ob unter dem Strich mehr oder weniger Geld ankommt, hängt vom individuellen Verhältnis aus eigener Rente, Höhe der Witwenrente, Freibetrag und weiterem Einkommen ab.
Dass die Auszahlung der Nachberechnungen erst 2028 erfolgt, verschiebt die spürbaren Effekte – beseitigt sie aber nicht.
Praxisrelevanz: Was Betroffene jetzt tun sollten
Für viele Frauen ist 2028 der entscheidende Einschnitt, weil dann die Anrechnung vollständig greift. Betroffene sollten ihre Versicherungskonten frühzeitig klären, die Zuordnung der Kindererziehungszeiten überprüfen und – insbesondere bei bestehender Hinterbliebenenrente – die eigene Einkommenssituation gegenüber dem Freibetrag durchrechnen.
Wer Grundsicherung bezieht, sollte wissen, dass zusätzliche Rentenbeträge die Leistung mindern können.
Grundsätzlich kündigt die DRV eine weitgehend automatische Umsetzung an; ein Antrag ist in Standardfällen nicht nötig, Sonderfälle – etwa spätere Adoptionen oder Auslandszeiten – können jedoch ein Antragsrecht erfordern. Beratungsgespräche bei der DRV helfen, individuelle Konstellationen vorab zu bewerten.
Einordnung: Mehr Gerechtigkeit – aber nicht für alle
Die Mütterrente III ist sozialpolitisch richtig, weil sie die Erziehungsleistung unabhängig vom Geburtsjahr gleichstellt. Sie bringt aber für Hinterbliebene eine stille Verschiebung: Ein staatlich gewolltes Plus in der eigenen Rente kann gleichzeitig ein Minus bei der Witwenrente oder in der Grundsicherung nach sich ziehen.
Das ist juristisch folgerichtig, politisch jedoch erklärungsbedürftig – zumal die spürbaren Kürzungen erst ab 2028 auftreten und deshalb leicht übersehen werden.
Wer betroffen ist, sollte die Regelungen nicht als Schicksal hinnehmen, sondern aktiv prüfen, welche Zuordnungen, Freibeträge und Gestaltungsmöglichkeiten im Einzelfall bestehen. Die Reform schafft damit mehr Gerechtigkeit in der Sache – ihre Verteilungswirkungen bleiben jedoch ambivalent.
Hinweis zur Rechtslage: Das Gesetzgebungsverfahren war am 21. Juli 2025 laut DRV-FAQ noch nicht abgeschlossen; der Kabinettsbeschluss datiert vom 6. August 2025. Konkrete Details – etwa Übergangsregelungen und Umsetzungsfristen – ergeben sich aus dem laufenden Verfahren und den endgültigen Gesetzesformulierungen. Maßgeblich sind die veröffentlichten Gesetzestexte und Bekanntmachungen des BMAS sowie die amtlichen Informationen der DRV.