Bürgergeld: Studie widerlegt Totalverweigerer Mythos

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Wollen Erwerbslose nicht arbeiten? Eine jetzt veröffentlichte Studie kommt zu einem anderen Ergebnis. Die Untersuchung zeigt, dass Bezieher von Sozialleistungen bereit sind, große Abstriche hinzunehmen, um endlich wieder einen Job zu haben, und was das für eine erfolgreiche Vermittlung bedeutet.

Hohe Bereitschaft, auch unter schlechten Bedingungen zu arbeiten

Daten des Panels „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ (PASS) belegen, dass Erwerbslose in der Grundsicherung sogar eine hohe Bereitschaft zeigen, eine neue Arbeitsstelle anzunehmen – auch dann, wenn die Bedingungen schlechter sind als in ihrem alten Job.

An diesen Fakten hat sich wenig geändert. Bereits 2010 ergab eine wissenschaftliche Studie (IAB-Kurzbericht 15/2010), dass Erwerbslose, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II bezogen, hoch motiviert waren, eine Arbeit zu finden und dazu auch Konzessionen in Kauf nahmen.

Befragungen der letzten 12 Jahre ausgewertet

„Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ wertete jetzt Befragungen der Jahre 2010–2022 aus. Diese zeigten klar: Leistungsbezieher sind nach eigener Aussage mehrheitlich bereit, eine neue Arbeitsstelle auch unter schlechteren Bedingungen anzunehmen.

Lebenssituation beeinflusst Bereitschaft zu Veränderungen

Es zeigten sich deutliche Unterschiede, abhängig davon, ob Menschen, die Grundsicherung beziehen, erwerbslos oder beschäftigt waren. In allen Bereichen waren die Erwerbslosen in weit höherem Ausmaß bereit, Konzessionen bei den Arbeitswegen, den Arbeitszeiten und beim Einkommen zu machen als die Beschäftigten.

So waren 53 Prozent der Erwerbslosen bereit, einen langen Arbeitsweg in Kauf zu nehmen, aber nur 30 Prozent der Beschäftigten. 54 Prozent der Erwerbslosen würden auch zu ungünstigen Zeiten arbeiten, aber nur 36 Prozent der Erwerbstätigen. 43 Prozent der Erwerbslosen würden Abstriche bei ihrem Erwerbseinkommen machen, aber nur 20 Prozent der Beschäftigten.

Nur vier Prozent der Erwerbslosen würden keine Konzessionen machen, aber 15 Prozent der Beschäftigten. Damit kein Missverständnis entsteht. „Keine Konzessionen“ bedeutet nicht Arbeitsverweigerung, sondern eine Stelle, die keine schlechteren Bedingungen bedeutet als im alten Job.

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Unterschiede zwischen Männern und Frauen

Bei Männern und Frauen lassen sich klare Unterschiede erkennen, welche Konzessionen sie in Kauf nehmen würden. Erwerbslose beider Geschlechter haben ähnliche Werte dabei, einen Job unter ihrer Qualifikation anzunehmen, nämlich beide zu rund 75 Prozent.

46,5 Prozent der Frauen würden ein geringeres Einkommen akzeptieren, aber nur 39,9 Prozent der Männer. Jedoch würden nur 37,9 Prozent der Frauen ungünstige Arbeitszeiten auf sich nehmen, dafür aber 63,6 Prozent der Männer. Noch klarer sind die Unterschiede bei einem langen Arbeitsweg. Diesen würden nur 40,8 Prozent der Frauen hinnehmen, aber 60,9 Prozent der Männer.

Woher kommen die Unterschiede?

Es zeigt sich also deutlich, dass Frauen ebenso wie Männer bereit sind, Abstriche zu machen, um in Arbeit zu kommen. Erwerbslose Männer wollen aber am wenigsten Einbußen beim Einkommen hinnehmen, und das liegt vermutlich daran, dass sie sich in der Rolle des Ernährers ihrer Familie sehen.

Für dieses höhere Einkommen sind sie allerdings häufiger zu langen Arbeitswegen und ungünstigen Arbeitszeiten bereit als Frauen. Auch hier können „klassische Rollenmuster“ den Ausschlag geben, in denen Frauen darauf achten, Familie und Beruf zu vereinbaren.

Entscheidend ist die Familiensituation

Die familiäre Situation bestimmt wesentlich, wo die Betroffenen Abstriche machen würden (und machen können). Denn erwerbslose Männer und Frauen ohne Kinder antworten ähnlich, wenn es um Arbeit unter der eigenen Qualifikation, ungünstige Arbeitszeiten und lange Arbeitswege geht. Erwerbslose Frauen ohne Kinder akzeptieren kein geringeres Einkommen in ähnlich hohem Ausmaß wie kinderlose Männer ohne Erwerbsbeschäftigung.

Bei Frauen und Männern mit Kindern zeigen sich hingegen die besagten Unterschiede klar: Väter sind eher bereit, lange zur Arbeit zu fahren und zu ungünstigen Zeiten zu arbeiten als Mütter, Mütter würden dafür häufiger ein niedrigeres Einkommen akzeptieren.

Hintergründe der Berufsentscheidungen besser verstehen

Die Arbeitsbereitschaft unter Leistungsbeziehern ist hoch. Um diese Arbeitswilligen auch in Beschäftigung zu bringen, muss die Arbeitsvermittlung die Unterschiede im Auge haben, bei denen die Betroffenen Abstriche leisten.

Mitarbeiter der Jobcenter müssen dringend auch die Hintergründe verstehen, statt Arbeitswillige in Jobs zu pressen, die sich mit ihrem Leben nicht vereinbaren lassen, und die Engagierten zu sanktionieren, wenn diese die Behörde auf die falsche Vermittlung hinweisen.

Das Magazin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung erläutert: „Dies betrifft auch die momentan diskutierten Verschärfungen der Zumutbarkeitsregelungen im Bürgergeldbezug. So würde eine pauschale Erhöhung der zumutbaren täglichen Pendelzeit für Personen mit Betreuungspflichten, also insbesondere Mütter, zu unverhältnismäßigen Härten führen.“

Zumutbarkeit ist individuell

Kurz gesagt: Wenn die zur Jobvermittlung verpflichteten Mitarbeiter verstehen, dass eine erwerbslose Mutter keine langen Arbeitswege und ungünstige Arbeitszeiten auf sich nehmen kann, dafür aber bereit ist, weniger Einkommen zu beziehen, dann ist eine passende Vermittlung möglich.

Das gilt auch umgekehrt. Wenn ein kinderloser Mann zwar keine Einbußen beim Einkommen haben will, aber bereit ist, lange zur Arbeit zu fahren – und dies zu ungünstigen Zeiten -, dann finden sich einfacher Jobs.

Das setzt allerdings voraus, dass die Jobcenter die Leistungsbezieher als das erkennen, was sie sind, also als Menschen, die in schwierigen Lebenssituationen in Beschäftigung kommen wollen – statt wegen Vorurteilen über „Arbeitsverweigerer“ falsche Entscheidungen zu treffen.