Bürgergeld: Jobcenter müssen Umzug für unangemessene teure Wohnung ermöglichen

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Die Jobcenter müssen einen erforderlichen Umzug auch in eine unangemessene teure Wohnung ermöglichen. Während der Pandemie waren Jobcenter nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (AZ: B 4 AS 4/23 R) verpflichtet, auch Umzüge in unangemessene – teurere – Mietwohnungen zu übernehmen, so lange kein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Leistungsempfängers vor lag (Leitsatz Detlef Brock).

So entschieden vom 4. Senat des LSG Sachsen mit heutigen veröffentlichtem Urteil

1. Die Regelungen zum vereinfachten Verfahren für den Zugang zu sozialer Sicherung aus Anlass der COVID-19-Pandemie erfassen nicht nur erstmalige Bewilligungen, sondern auch Weiterbewilligungszeitraum, die während der in § 67 Abs 1 SGB II geregelten Geltungsdauer beginnen ( vgl. BSG, Urt. v. 14.12.2023 – B 4 AS 4/23 R – ).

2. Bürgergeldempfänger handeln nicht rechtsmissbräuchlich, wenn nachvollziehbare Gründe ( hier gesundheitliche ) für einen Umzug in eine zu teure Wohnung während der Pandemie vorlagen.

3. Somit liegt kein Rechtsmissbrauch vor und eine Verbesserung der Lebensverhältnisse ist hinzunehmen ( Orientierungssatz Detlef Brock )

Das LSG Sachsen-Anhalt widersprach der Auffassung des Jobcenters

Für Neuanmietungen im Leistungsbezug während der pandemischen Situation eine präventive Kostenkontrolle nach § 22 Abs. 4 SGB II vorgesehen sei

Denn der Angemessenheitsbegriff des § 22 Abs. 1 SGB II, auf den sich die Fiktion des § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II ausdrücklich bezieht, ist identisch mit demjenigen in § 22 Abs. 4 SGB II.

Demnach wäre das Jobcenter verpflichtet gewesen, dem Leistungsempfänger die begehrte Zusicherung zur Berücksichtigung der Aufwendungen für die neue Unterkunft zu erteilen ( BSG, Urt. v. 14.12.2023 – B 4 AS 4/23 R – ).

Der Fiktionswirkung steht auch kein rechtsmissbräuchliches Handeln des Hilfebedürftigem entgegen

Denn nach Auffassung des 4. Senats des LSG Sachsen liegt Rechtsmissbrauch u.a. dann vor, wenn jemand eine bloß formal bestehende Rechtsposition ohne schutzwürdiges Eigeninteresse ausnutzt.

Wann kann das der Fall sein

Z. Bsp., wenn eine offensichtlich unangemessen teure Wohnung allein deswegen angemietet wurde, um die eigenen Wohnverhältnisse unter Ausnutzung der Corona-Sonderregelung des § 67 Abs. 3 SGB II zu Lasten der Allgemeinheit zu verbessern.

Der Bürgergeld- Empfänger hatte angegeben, bei seiner vorherigen Unterkunft habe es sich um ein sehr renovierungsbedürftiges altes Haus unterster Standard (ohne innenliegende Sanitäranlagen, ausreichende Elektro- und Wasseranschlüsse sowie Heizmöglichkeiten) gehandelt.

Gesundheitliche Gründe machten ein Verbleib in der alten Wohnung für den Hilfebedürftigen unmöglich

Weil aufgrund seines Gesundheitszustands und der durch den Schlaganfall verbliebenen Einschränkungen war dem Kläger ein Verbleib in der bisherigen Unterkunft nicht möglich.

Nach Auffassung des Gerichts benötigte er schnell einen neuen Wohnraum, der den gesundheitlichen Einschränkungen gerecht wurde (z.B. im Erdgeschoss).

Zudem hat der Kläger eine Wohnung in der Nähe seines Arztes gesucht. Dies waren die vorrangigen Beweggründe für seinen Umzug in die von ihm angemietete Wohnung.

Dass der Bürgergeld- Empfänger dadurch seine Wohnverhältnisse deutlich verbessert hat, ist insoweit für die Geltungsdauer des § 67 Abs. 3 SGB II hinzunehmen.

Ein rechtsmissbräuchliches Handeln insoweit nicht zu erkennen.

Auch das Jobcenter hat die Erforderlichkeit des Umzugs anerkannt, ohne die genaueren Umstände der bisherigen Unterkunft des Klägers zu ermitteln. Insofern verhält er widersprüchlich, wenn er dem Kläger nunmehr vorwirft, seine Wohnverhältnisse erheblich verbessert zu haben.

Fazit

1. Die Regelungen zum vereinfachten Verfahren für den Zugang zu sozialer Sicherung aus Anlass der COVID-19-Pandemie erfassen nicht nur erstmalige Bewilligungen, sondern auch Weiterbewilligungszeiträume.

2. Die in den Regelungen zum vereinfachten Verfahren für den Zugang zu sozialer Sicherung aus Anlass der COVID-19-Pandemie normierte Fiktion, dass die tatsächlichen Unterkunftskosten als angemessen gelten, findet grundsätzlich auch Anwendung, wenn der Leistungsberechtigte während der Pandemie umgezogen ist.

3. Eine Kürzung von monatlich 128,00 € bei den Kosten der Unterkunft wegen eines Umzugs in eine zu teure Wohnung während der Pandemie ist rechtswidrig, wenn die aufgrund des Schlaganfalls erforderlich gewordene Anmietung einer „bewohnbaren“ Wohnung in der Nähe des Arztes und des Krankenhauses erfolgte.

4. Ein Umzug in eine zu teure Wohnung während der Pandemie stellt auch kein sozialwidriges Verhalten im Sinne des § 34 SGB II dar, wenn der Umzug erforderlich war auf Grund der gesundheitlichen Einschränkungen bedingt durch einen Schlaganfall.

Anmerkung Detlef Brock

Die Fiktionswirkung greift dann nicht, wenn ein Leistungsbezieher rechtsmissbräuchlich gehandelt hat.

Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB), der auch im öffentlichen Recht gilt (BSG vom 2.11.2015 – B 13 R 35/14 R – ) liegt Rechtsmissbrauch unter anderem vor, wenn jemand eine bloß formal bestehende Rechtsposition ohne schutzwürdiges Eigeninteresse ausnutzt.

Dies kann im vorliegenden Kontext etwa dann der Fall sein, wenn eine offensichtlich unangemessen teure Wohnung allein deswegen angemietet wurde, um die eigenen Wohnverhältnisse unter Ausnutzung der Corona-Sonderregelung des § 67 Abs 3 SGB II zu Lasten der Allgemeinheit zu verbessern.